Mitte Januar dieses Jahres fand die letzte Mitgliederversammlung der Evangelischen Mennonitengemeinde Vallon de Saint-Imier statt. Die Mitglieder stimmten einstimmig dafür, die Gemeinde aufzulösen und machten damit den Weg frei für einen Neuanfang: In Gebäude der Gemeinde soll ein neues Modell von Kirche entstehen.
«Et si ça s’arrêtait?», stand im Titel der Umfrage, welche die Verantwortlichen der Mennonitengemeinde Vallon de Saint-Imier 2019 den Mitgliedern verteilte. Um die zwanzig Personen zählte sie damals, viele von ihnen nicht mehr die Jüngsten. Und wenn es zu Ende ginge? Die Umfrage brachte zur Sprache, was schon seit zehn Jahren im Raum stand: In absehbarer Zeit würde es mit der Gemeinde an der Route Principale 13 in Cormoret nicht mehr weitergehen, zumindest nicht in ihrer Form als konventionelle Kirche. Einerseits, weil es nicht gelang, neue Mitglieder zu gewinnen und andererseits, weil die bestehenden irgendwann altershalber nicht mehr da sein würden. Die Umfrage fühlte der Gemeinde den Puls. Das Ergebnis: Die Mehrheit der Mitglieder hatte den Eindruck, dass es an der Zeit war, die Gemeinde aufzulösen. Basierend auf den Antworten formulierten die Verantwortlichen ein «Feuille de route», einen Fahrplan, der den Weg bis zum Ende aufzeigte.
Spannungen, aber keine Spaltungen
Damit startete ein zweijähriger Prozess des Abschiednehmens, mit verschiedenen Gesprächsabenden, Mitgliederversammlungen und viel hörendem Gebet. «Diesen Prozess haben alle ganz unterschiedlich erlebt», sagt Luc Ummel, der als Pastor die Gemeinde begleitete. «Es kam dabei auch zu Spannungen, aber zu Spaltungen kam es nicht», blickt er zurück. Einige Mitglieder wurden mal laut, andere eher schweigsam. Viele waren einfach traurig. Es gab Mitglieder, die sich gleich zu Beginn des Prozesses anderen Kirchen im Valon de Saint-Imier anschlossen. Andere testeten verschiedene Kirchen in der Region aus oder investierten sich stärker in den Hauskreis, den sie bereits mit Nachbarn gestartet hatten. Und viele blieben vorerst Teil der Gemeinde. Diese traf sich ab dem 1. November 2020 nach einem letzten klassischen Sonntagmorgen-Gottesdienst einmal im Monat an einem Mittwochabend als Hausgemeinde – und tut dies heute immer noch.
Transformation statt Beerdigung
Dieser Schritt, die Gemeinde in eine Hausgemeinde umzuwandeln, war Teil des «Feuille de route» und machte eines der Kernanliegen dieses Plans greifbar. Die Gemeindeverantwortlichen hielten darin fest: «In der gegenwärtigen Situation bevorzugen wir die Idee einer Transformation und einer Übergabe an neue Menschen, die daran interessiert sind, ‹Kirche› im Dorf Cormoret und im Vallon de Saint-Imier zu machen. Wir glauben, dass diese Kirche in einer originellen und zeitgemässen Form mit neuen Ressourcen und neuem Elan wiedergeboren werden kann.» Transformation, statt Beerdigung also oder eben Hausgemeinde unter der Woche, statt konventionelle Kirche am Sonntagmorgen. Dieses Anliegen der Transformation und des Übergangs weist auch auf eine Vision von Luc und dessen Frau Paula hin. Diese stellten die beiden der Gemeinde am selben Abend vor, wie die Gemeindeverantwortlichen die Resultate der Umfrage und das «Feuille de route».
Vom alten Traum zur neuen Vision
Die Vision geht auf einen Traum zurück, den Paula zwei Nächte in der Folge hatte, als sie 19 Jahre alt war. Sie träumte damals, dass sie zusammen mit ihrem zukünftigen Ehemann in einem grossen Haus lebt, vor dem ein Brunnen steht, zusammen mit Menschen aus verschiedenen Generationen. Als sie Luc kennenlernte, erzählte sie ihm davon. Den Sinn des Traums erschloss sich ihnen damals nicht – noch nicht. Als sich nun das Ende der Gemeinde abzeichnete und sie sich überlegten, wo sie in Zukunft wohnen würden, erinnerten sie sich wieder daran. Denn die beiden waren seit über zwanzig Jahren im Gebäude zu Hause, das der Gemeinde gehörte und wo sich diese für ihre Versammlungen traf. «Für uns stand von Beginn weg fest, dass wir nicht wegziehen wollten», sagt Luc. Stattdessen wurde ihnen klar, was Paulas Traum bedeuten könnte. Sie entwickelten daraus die Vision, das Gebäude der Gemeinde, vor dem wohlgemerkt ein Brunnen steht, zu einem gemeinschaftlichen Mehrgenerationen-Wohnhaus zu machen: die «Communauté d’habitation intergénérationelle La Fontaine».
Eine Architektin konkretisiert
Die Mitglieder der Gemeinde wurden eingeladen, über die Vision nachzudenken, sie mit ins Gebet zu nehmen und sich im Lauf der Zeit dazu zu äussern. Sie fiel auf fruchtbaren Boden und begann zu reifen. Nur drei Monate nach der Präsentation von Luc und Paula, entschieden die Mitglieder in einem Konsensverfahren, eine Architektin damit zu beauftragen, ein Vorprojekt zu erstellen. Dieses sollte zeigen, wie ein solches Mehrgenerationenhaus im Gebäude der Gemeinde aussehen könnte. Die Architektin, die selbst vor dreissig Jahren einmal im Haus gelebt hatte, schlug vor, einen Teil des Gebäudes mit einem neuen und grösseren Anbau zu ersetzen. So würde Platz entstehen für drei voll ausgestattete, aber einfache Wohnungen. Im Erdgeschoss könnte ein Saal untergebracht werden für gemeinsame Mahlzeiten und andere Anlässe. Auch ein Andachts- und Gebetsraum würde Platz finden.
Viel mehr als einfach Wohnraum
Dieser Raum seit wichtig, sagt Luc, denn das Mehrgenerationenhaus soll viel mehr beherbergen als einfach nur Wohnraum: «Unsere Vision ist letztlich, eine neue Art von Kirche hervorzubringen. Eine in der man sich nicht nur am Sonntagmorgen zum Gottesdienst trifft, sondern eine Lebensgemeinschaft bildet.» Diese Gemeinschaft soll geprägt sein von einem einfachen Lebensstil, von Zusammenarbeit, davon, dass die Mitglieder teilen, was sie haben, einander und anderen dienen und sorgsam mit der Umwelt umgehen. Daneben soll sich die Gemeinschaft in der Region einbringen. Zum Beispiel mit Aktivitäten für die Kinder der Umgebung oder einem Gartenprojekt, bei dem alle Menschen im Dorf eingeladen werden, verschiedene Gärten und Flächen der Gemeinde gemeinsam mit Gemüse und Früchten zu bepflanzen. Luc zitiert den Theologen Frédéric de Coninck wenn er sagt: «Wir möchten eine Art Oase der Hoffnung werden, aus der eine neue Realität hervorgeht.»
Königreich Gottes leben und erlebbar machen
Für ihn ist eine solche Art von Lebensgemeinschaft auch stark in der täuferischen Theologie verankert: «Wir wollen Salz und Licht sein und wollen etwas vom Königreich Gottes leben und erlebbar machen.» Dieses Anliegen sei auch bei der Gründung der Gemeinde in Cormoret vor fast 40 Jahren im Zentrum gestanden. Auch wenn sich nun vieles verändern würde, stehe das neue Projekt also auf demselben Fundament wie die Gemeinde damals. Deshalb wurden sich die Mitglieder im Transformationsprozess auch einig, dass das Projekt wie die Gemeinde bisher Teil der Konferenz der Mennoniten der Schweiz sein soll. «Auch mit dem neuen Projekt wollen wir schliesslich Zeugnis für Jesus Christus sein», sagt Luc. «Wir sind zwar keine klassische Kirche mehr, aber eine Art ‘Startup’, ein Pilotprojekt für die Kirche von morgen.»
Aus der Auflösung wird ein Neuanfang
Am 18. Januar 2022 fand schliesslich die letzte Mitgliederversammlung statt. Dort stimmten die Mitglieder über den Vorschlag ab, dass die Gemeinde aufgelöst und in den Verein «La Fontaine» überführt werden soll. Dieser Verein soll das Gebäude der Gemeinde übernehmen und kriegt fünf Jahre Zeit, die Vision umzusetzen, die von Paula und Luc ausgegangen ist. Die Mitglieder stimmten zu – und zwar einstimmig. Und so wurde die Auflösung tatsächlich zu einem Neuanfang. Für Luc war die Versammlung ein aussergewöhnlicher Moment: «Der Frieden hat regiert», berichtet er im Rückblick. «Es sind zwar nicht alle Mitglieder der Gemeinde Mitglieder im neuen Verein geworden, aber alle haben der Veränderung zugestimmt.»
Luc und Paula Ummel wohnen seit über 20 Jahren im Gebäude, das die Evangelische Mennonitengemeinde Vallon de Saint-Imier für ihre Versammlungen genutzt hat. Auf einen Traum von Paula geht die Vision der «Communauté d’habitation intergénérationelle La Fontaine» zurück, die nun dort entstehen soll.
Türen gehen auf
Bald soll nun eine Spurgruppe eingesetzt werden, die das Projekt konkretisiert und sich um die Finanzierung kümmert. Dabei hofft der Verein auf die Sympathie für die Mennoniten im Vallon de Saint-Imier zählen zu können. Zumindest die Aufmerksamkeit des Gemeindepräsidenten von Cormoret haben sie schon mal. Nachdem sie ihre Vision in einer Lokalzeitung vorstellen konnten, wurde Luc von ihm eingeladen, um das Projekt vorzustellen. Und noch bevor die Spurgruppe richtig losgelegt hat, tat sich eine weitere Tür auf: Unerwarteter Weise wurde bekannt, dass das Wohnhaus hinter dem Gebäude verkauft werden soll. Der Verein hat nun ein Angebot gemacht. «Können wir dieses Haus in das Projekt integrieren, haben wir dann nicht nur drei, sondern vier Wohnungen zur Verfügung», freut sich Luc. Das Projekt würde noch grösser, als erträumt.