Zwei Mennonitengemeinden in der Schweiz, zwei sehr unterschiedliche Geschichten was Versammlungshäuser angeht: Die eine hat immer mehrere Gebäude besessen. Die andere hat immer nur gemietet und ist seit der Gründung fünfmal umgezogen. Welchen Stellenwert haben die Gebäude für die beiden Gemeinden? Inwiefern sind sie Heimat?
Im Sommer 2023 fällte die Evangelische Mennonitengemeinde Sonnenberg einen Entscheid, der einiges Aufsehen erregte: Sie beschloss, die Kapelle auf dem Jeanguisboden zu verkaufen. Auch wenn die Gemeinde diesen Schritt tat, um insbesondere auch die nächsten Generationen finanziell zu entlasten, fielen die Reaktionen nicht nur verständnisvoll aus. «Besonders Leute von ausserhalb der Gemeinde konnten sich nicht vorstellen, dass wir diesen geschichtsträchtigen Ort aufgeben wollen», sagt Nelly Gerber-Geiser, ehemalige Älteste der Sonnenberggemeinde, rückblickend. Damit gehe ein Stück Heimat verloren, ein Teil der Identität, habe es geheissen. Immerhin: Die Kapelle wurde von der Mennonitengemeinde Sonnenberg über ein Jahrhundert lang genutzt. Zudem beherbergt sie das Archiv der Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS), ist Station auf einem Wanderweg zur Täufergeschichte und war auch oft Austragungsort der Delegiertenversammlung der KMS. Sie ist daher etlichen Personen weit über die Gemeinde hinaus bekannt. Doch was bedeutete die Kapelle für die Gemeinde selbst? Und geht mit dem Verkauf einer Kapelle wirklich Heimat verloren? Eine Suche nach Antworten bei der Mennonitengemeinde Sonnenberg – und auch bei der Mennonitengemeinde Bern.
Viele Orte, vielfältige Gemeinde
Diese beiden Gemeinden haben, was Gebäude angeht, eine sehr unterschiedliche Geschichte hinter sich. So war für die Sonnenberggemeinde die Kapelle auf dem Jeanguisboden immer nur einer von mehreren Standorten. In den 1970er-Jahren sogar einer von insgesamt sieben. «Das hat mit der Art zu tun, wie die Gemeinde entstanden ist.» Früher hätten sich die Mennonit:innen in der Gegend in kleinen Gruppen auf Bauernhöfen getroffen. «Auf einem Hof konnte sogar eine Wand zwischen Schlafzimmer und Wohnraum entfernt werden, um genügend Platz für den Gottesdienst zu schaffen», erzählt Nelly Gerber-Geiser.
Auch als die Versammlungen zunehmend in eigens dafür gebauten oder umgebauten Gebäuden stattfanden, blieb es bei mehreren Standorten über das grosse Einzugsgebiet der Gemeinde verteilt. Eine erste Kapelle wurde 1875 gebaut, jene auf dem Jeanguisboden 1899. Auf diesen Zeitpunkt wird auch die formelle Gründung der Gemeinde datiert. Später kamen weitere Gebäude hinzu, so in Mont-Tramelan, wo ein Restaurant mit Tanzsaal umfunktioniert wurde, und in Les Mottes, wo eine Schreinerei zur Kapelle umgebaut wurde. «Diese Kapellen waren übrigens meist mit Schulräumen ausgestattet, wo die Kinder der Mennonitenfamilien unterrichtet wurden», sagt Nelly Gerber-Geiser.
Die vielen Standorte schufen Raum für Vielfalt in der Gemeinde, die zeitweise 600 Mitglieder zählte. «Auch wenn ein Predigerteam im Turnus alle Standorte bediente, hatte jeder seine eigene theologische Färbung», sagt Nelly Gerber-Geiser. Diese habe sich durch die Personen ergeben, die sich dort regelmässig trafen und für das Programm um die Gottesdienste herum zuständig waren. So sei es auf dem Jeanguisboden etwas traditioneller zugegangen als beispielsweise in Les Mottes. Trotzdem verstanden sich aus Sicht von Nelly Gerber-Geiser immer alle als eine Gemeinde.
Jeder Generation ihr Gebäude?
Im Laufe der Zeit wurden zwei der vielen Standorte zu eigenen Gemeinden. Weil die Zahl der Mitglieder immer weiter zurückging, wurden die übrigen Standorte aufgegeben. «Die Gebäude finanzieren wir ja aus den Spenden der Mitglieder. Wenn deren Zahl abnimmt, geht die Rechnung eben irgendwann nicht mehr auf», erklärt Nelly Gerber-Geiser. Zuletzt entschied sich die Gemeinde nun eben auch die Kapelle auf dem Jeanguisboden nicht mehr weiter zu nutzen. «Die Generation meiner Eltern, deren Grosseltern die Kapelle gebaut haben, hing noch sehr am Gebäude.» Doch viele, vor allem jüngere Menschen in der Gemeinde, hätten wenig Bezug zum Ort. Das habe unter anderem damit zu tun, dass auf dem Jeanguisboden meist deutschsprachige Gottesdienste stattfanden. In der zweisprachigen Gemeinde gebe es immer mehr französischsprachige Mitglieder. Für sie sei das Versammlungslokal in Tramelan wichtig, wo die meisten französischsprachigen Gottesdienste stattfänden. «Auch die Kapelle in Les Mottes hat einen anderen Status. Dort ist nebenan ein Lagerhaus, das auch uns gehört. Und dort finden Ferienlager statt, die auch von jungen Menschen aus unserer Gemeinde mitgestaltet werden», führt Nelly Gerber-Geiser aus. Dadurch hätten sie eine Beziehung zum Ort entwickelt.
Als sich die Gemeinde einig war, dass sie einen weiteren Standort aufgeben wollte, führte sie eine Umfrage unter den Mitgliedern durch, um herauszufinden, welcher es sein sollte. «Wenig überraschend wollte eine deutliche Mehrheit die Kapelle auf dem Jeanguisboden aufgeben», sagt Nelly Gerber-Geiser. Für diese Mehrheit gehe eben kaum ein Stück Heimat verloren. Ob sich die Mitglieder in der Gemeinde zu Hause fühlten oder nicht, habe schon immer auch mit den Menschen zu tun gehabt, die diese Gemeinde ausmachten. Heute habe sich das noch verstärkt: «Die Gemeinschaft ist also viel wichtiger als die Gebäude.»
Heimat sind die Menschen
Das sieht auch Elsbeth Zürcher so: «Eine Kirchgemeinde ist nicht ein Gebäude, sondern eine Gemeinschaft. Diese und die Menschen, die sie ausmachen, sind Heimat», sagt die Älteste der Evangelischen Mennoniten-Gemeinde Bern. Die Gemeinde Bern hat in Sachen Gebäude einen ganz anderen Weg hinter sich als die Sonnenberggemeinde: Sie hat nie ein eigenes Gebäude besessen, sondern ihre Versammlungsräume immer nur gemietet. Das sei nicht geplant gewesen, hält Elsbeth Zürcher fest: «Die Gemeinde wollte von der Gründung an etwas kaufen. Einmal sogar eine katholische Kirche.» Aber am Ende hätten sich immer alle Optionen zerschlagen.
Entstanden ist die Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg, als zahlreiche Täuferfamilien aus dem Jura und dem Emmental wegen ihrer Ausbildung oder aus beruflichen Gründen nach Bern oder in die Umgebung zogen. Um den Zugezogenen eine neue kirchliche Heimat zu bieten, organisierten Gemeindeälteste aus dem Jura und dem Emmental ab 1959 regelmässige Versammlungen in der Stadt an der Zeughausgasse in einem Gebäude der Evangelischen Vereinshaus AG. Daraus entstand schliesslich die Gemeinde, die 1963 gegründet wurde – und vorerst an der Zeughausgasse eingemietet blieb. 26 Jahre später wurde das Gebäude umgebaut und die Gemeinde musste sich eine neue Bleibe suchen. Fündig wurde sie im Berner Breitenreinquartier. Dort zog sie bei der Evangelisch-methodistischen Kirche ein, auch wieder zur Miete, und teilte sich mit ihr deren Kapelle. «Wir haben uns dort sehr wohl gefühlt. Es war ein schöner sakraler Raum mit einer Orgel und wir verstanden uns gut mit dem Sigristen-Ehepaar», erzählt Elsbeth Zürcher. Für viele Kinder sei dieser Ort am meisten eine Heimat gewesen, verbunden mit vielen schönen Erinnerungen.
Umziehen, umziehen, umziehen
Aber: Nach 13 Jahren gaben die Methodisten die Kapelle auf. Die Mennonitengemeinde war interessiert, sie zu kaufen. Aber am Ende der Verhandlungen stand fest, dass der Preis für sie zu hoch war. Markus Gerber, der damals Präsident der Gemeinde war, erinnert sich: «Die finanzielle Belastung wäre sehr gross gewesen. Mir war nicht wohl mit der Geschichte. Zum Glück tat sich die Gelegenheit auf, uns beim Blauen Kreuz einzumieten, diesmal in einem Gebäude in einem Vorort von Bern.» Die Gemeinde griff zu und es folgte der nächste Umzug. Für den Entscheid gab es damals auch ein theologisches Argument, erzählt Elsbeth Zürcher: «Wir sagten uns: Es kann doch nicht sein, dass wir als christliche Gemeinde uns nur noch um ein Gebäude drehen und dort alles Geld investieren. Wir wollten das Geld lieber in Projekte und Menschen investieren.»
Fünfzehn Jahre später wiederholte sich die Geschichte: Das Blaue Kreuz beschloss, das Gebäude zu verkaufen, in dem die Mennonitengemeinde eingemietet war. Wieder prüfte die Gemeinde einen Kauf und wieder war am Ende der Preis so hoch, dass sie sich dagegen entschied. «Die Mehrheit war damals der Meinung, dass wir lieber in eine Anstellung investieren wollten als in ein Gebäude», sagt Elsbeth Zürcher. Allerdings gab es damals etliche Mitglieder, die das Gebäude sehr gerne gekauft hätten. Sie waren enttäuscht über diesen Entscheid.
Vorteile, Nachteile, Ersatzteile
Dank guter Beziehungen kam die Gemeinde in dem Kirchgemeindehaus einer reformierten Kirche in der Stadt Bern unter. Dort konnte sie aber nur fünf Jahre bleiben. Dann wurde das Gebäude zu einem Schulhaus umgebaut und es folgte zwangsläufig der nächste Wechsel. Eine Nachfolgelösung bot die reformierte Kirchgemeinde gleich selbst an: Die Mennonitengemeinde konnte in ein anderes Kirchgemeindehaus umziehen, wo sie seit 2018 zu Hause ist. Vier Jahre nach diesem Umzug kam es zu einem symbolträchtigen Schritt: Auf Anregung von Markus Gerber, der nun als Kassier amtete, löste die Gemeinde ihren Baufonds auf. Diesen hatte sie bis dahin jährlich aufgestockt. «Mit der Auflösung verabschiedeten wir den Wunsch, ein eigenes Gebäude zu erwerben, definitiv», sagt Markus Gerber. Mit der Zeit sei das Bedürfnis dafür einfach verschwunden. «Für mich persönlich ist es wie mit einem Auto: Wenn es gut fährt, ist mir das Äussre egal. Wenn die Gemeinschaft und der Gottesdienst in einer Gemeinde gut sind, spielt mir das Gebäude keine Rolle.»
Dass die Gemeinde nur miete, habe natürlich auch Nachteile, sagt Kathy Gerber, die derzeitige Präsidentin der Gemeinde: «Wir zahlen beispielsweise viel Miete und können doch nicht mitbestimmen, wie das Gebäude innen und aussen aussieht. Und wir müssen auch einen Teil der Einrichtung und die Dekoration immer wieder aufstellen und wegräumen.» Dafür seien sie mit leichtem Gepäck unterwegs, ohne Liegenschaft als Klotz am Bein. «Wir haben keine langen Diskussionen zu Sanierungen, neuen Heizungen oder Umbauten und müssen uns auch nicht um den Unterhalt kümmern. Es gibt Gemeinden, die beneiden uns fast ein bisschen um unsere Freiheit und Flexibilität», sagt Kathy Gerber. Rückblickend sagt Elsbeth Zürcher, sie hätten schon immer wieder von einem eigenen Gebäude geträumt. Trotzdem habe die Gemeinde es nicht bereut, dass sie nie ein eigenes Gebäude besessen habe. Die meisten Mitglieder hätten die grosse Reise der Gemeinde immer mitgemacht und sie seien an den verschiedenen Stationen auch immer schnell angekommen. «Und das hat eben mit der Gemeinschaft zu tun, die wohltut und welche die eigentliche Heimat ist.» Geht mit dem Verkauf einer Kapelle Heimat verloren? Solange die Gemeinschaft bleibt, wohl eher nicht.
Text:
Simon Rindlisbacher