In Karlsruhe fand vom 31. August bis am 8. September die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen statt. Unter den 4’000 Teilnehmenden aus der ganzen Welt waren auch zahlreiche Mennonit:innen. Einer von ihnen war Daniel Geiser-Oppliger. Er blickt auf einen vielfältigen und bewegenden Anlass zurück.
4000 Gäste aus aller Welt nahmen vom 31. August bis am 8. September an der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) teil. Sie fand in Karlsruhe zum elften Mal statt. Der ÖRK ist eine Gemeinschaft von 352 Kirchen, die weltweit über 580 Millionen Christen vertritt. Die römisch-katholische Kirche ist nicht Mitglied, arbeitet jedoch bei einzelnen Programmen mit. Die Mennonitische Weltkonferenz (MWK) wurde durch Präsidenten Henk Stenvers, den Generalsekretär César Garcia und Liesa Unger vertreten, die für die Organisation der Weltversammlung der MWK zuständig ist. Offizieller Delegierter der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG) ist Fernando Enns. Er wurde in Karlsruhe nach 22 Jahre im Zentralkomitee ins Exekutivkomitee. Neben ihnen zählten zu den 4000 Gästen zahlreiche andere Mennonitinnen und Mennoniten aus Deutschland, Frankreich, Kanada, Demokratischen Republik Kongo, der Niederlanden und der Schweiz. Verschiedene von ihnen wirkten auch bei Workshops und anderen Treffen mit.
Spiritualität ist zentral
Die Spiritualität hat auf einer Vollversammlung des ÖRK immer einen zentralen Platz. Jeden Morgen und Abend findet ein Gottesdienst statt, der jeweils von einer anderen Mitgliedskirche nach deren Liturgie gestaltet wird. Dabei wird bewusst auch den verschiedenen Kontinenten Raum gegeben. Das Singen und die Musik haben stets ihre eigene Dynamik und tragen zu einer frohen, aufgeschlossenen Atmosphäre bei. Eine jugendliche Delegierte der reformierten Kirche der Schweiz sagte, dass die Vielfalt der Gottesdienste sie am meisten angesprochen habe und sie dies in ihre Kirchgemeinde mitnehme. Für mich gehörte zu den Highlights der Versammlung eine kulturelle Darbietung am Sonntagabend unter der Verantwortung der Evangelischen Landeskirche Baden, der Union der Protestantischen Kirchen von Elsass und Lothringen und der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Das Thema war «Wasser, dem Rhein entlang». Sowohl von der künstlerischen wie vom Inhalt war die Darbietung faszinierend, informierend mit guten Pointen, aber auch spirituell inhaltsreich.
Karlsruhe: Ort des Weckrufs
Die Versammlung bot viele spannende Vorträge und Workshops. Drei Grussworte haben mich besonders angesprochen und regen mich weiterhin zum ernsthaften Nachdenken an. Erzpriester Radu Constantin Miron, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), ist bekannt für seine oft bildhafte und humorvolle Sprache. Er begann seine Ansprache mit einer Frage: «Wussten Sie, dass Sie in eine Stadt gekommen sind, deren Namen etwas mit ‹Schlafen› zu tun hat?» Einer Legende zufolge soll vor etwas mehr als 300 Jahren der Gründer der Stadt, Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach, in der Nähe des Versammlungsortes an einem Baum eingeschlafen sein. Im Traum sei ihm die Idee von der Stadtgründung gekommen, weshalb die neue Stadt den Namen Karlsruhe erhalten haben soll. Wie bei so vielen Legenden gebe es keine Beweise für die Richtigkeit dieser Geschichte, berichtete Radu Constantin Miron. «Aber: Es gibt unbestritten diesen Namen ‹Karlsruhe›, ein Name, der heute in die Geschichte der ökumenischen Bewegung eingeht.»
Die Kirchen Deutschlands wünschten sich, dass die 11. Vollversammlung des ORK im kollektiven Gedächtnis nicht als Ort des Schlafes in Erinnerung bleibe, sondern als ein Ort des Wachrufes an die Welt, an die Kirchen, an uns alle, ergänzte der Erzpriester. «Unser Herr ist hier und fragt uns: Schlaft ihr immer noch und ruht euch aus? Es ist so weit. Die Stunde ist da!», zitierte er aus dem Markusevangelium. Es liege an uns allen, wie wir die Vollversammlung in Karlsruhe verlassen würden: «Im ökumenischen Schlaf der Gleichgültigkeit, der Routine und der Selbstgenügsamkeit, mit dem ‹Weiter so.› oder mit dem Aufwachen, mit dem Neuanfang und der gegenseitigen Ermutigung», schloss Radu Constantin Miron seine Rede.
Als Glaubende, lasst uns auch als Gläubige handeln
«Ich glaube als Muslimin ganz fest daran, dass die Liebe Christi auch für mich bestimmt ist», bekannte Azza Karam, Generalsekretärin der Organisation Religionen für den Frieden, in ihrer Rede an der Vollversammlung. Sie berichtete, dass sie während ihrer fast 20-jährigen Tätigkeit für die Vereinten Nationen zusammen mit Premierminister:innen und Präsident:innen jedes Jahr zu Beginn der UN-Vollversammlung respektvolle Momente erlebe. Viele Frauen und Männer, die Verantwortung in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft tragen würden, würden ihr Engagement ernst nehmen. «Sie tragen eine grosse Last und eine schwerwiegende Verantwortung, den Auftrag einer Regierung zu erfüllen, ihre Bürger:innen und die Menschen in ihrem Hoheitsgebiet zu schützen», sagte Azza Karam. Sie ist überzeugt: Die Herausforderung für die religiösen Verantwortlichen ist aber weitaus grösser. Denn diese kümmerten sich um spirituelle, moralische, politische, emotionale und eine grosse Anzahl praktische Herausforderungen. Deshalb glaube sie fest daran, dass die Macht der religiösen Verantwortlichen die Macht der politischen Staatsmänner und -frauen bei weitem übersteige.
Die meisten politischen Institutionen seien sicherlich bemüht die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, dennoch zeige sich, dass in schwierigen Situationen der Krieg als die einfachere Option erscheine. Frieden stiften, Frieden erhalten sei eine immerwährende harte Arbeit. Wir dürften uns nicht nur in Worte äussern, es gelte auch tätig zu werden und in Solidarität zusammenzustehen und zu handeln. «Wir haben die moralische Verpflichtung, das Gewissen des politischen Establishments zu sein und sehr aufmerksam und wach zu sein, damit wir uns nicht von dem politischen Establishment benutzen zu lassen.» Sie plädierte dafür, dass die Liebe Christi nicht nur für die Menschen des christlichen Glaubens gedacht sei sondern allen Menschen gelte. Sie fragte: «Wenn die Liebe Christi für die gesamte Menschheit gilt, was würde das dann praktisch für jeden von uns in diesem Raum bedeuten?» Wir müssten darüber nachdenken, wie viel mehr von der Liebe Christi verbreitet werden könnte, wenn alle multireligiös arbeiten würden, um allen zu dienen – nicht nur einer Gemeinschaft, nicht nur einer Religion, sondern wirklich allen. «Wir können Glaubende sein. Lasst uns wie Glaubende handeln», schloss sie ihr Referat, das vom Publikum mit langanhaltenden Applaus und stehenden Ovationen gewürdigt wurde.
Die Räuber müssen zur Rechenschaft gezogen werden
Dagmar Pruin, die Präsidentin von Brot für die Welt, forderte von der Vollversammlung mehr Anstrengungen zur Entschärfung der weltweiten Hungerkrise. Weltweit seien 828 Millionen Menschen unterernährt. Die Nothilfe müsse global aufgestockt werden. Die Hungerkrise sei schon lange vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in der Welt. «Die Industrienationen leben schon lange in ungerechter Weise auf Kosten, besonders der armen Länder deren Rohstoffen ausgebeutet werden», hielt Dagmar Pruin fest. Es sei dringend mehr Ursachenbekämpfung nötig, um den Hunger in der Welt dauerhaft zu überwinden. Die Ärmsten der Armen dürften nicht diejenigen sein, die am stärksten unter einer Krise leiden, zu der sie am wenigsten beigetragen haben. Zum Ukraine-Konflikt sagte die Präsidentin von Brot für die Welt, dass wir zunächst den Menschen in der Ukraine und ausserhalb helfen müssten, die wegen dem Krieg Not leiden würden. Dies sei die erste Christenpflicht, sagte sie mit Verweis auf das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der einem verletzten Mann half, der unter die Räuber gefallen war. Sie ergänzte: «Danach müssen aber die Räuber zur Rechenschaft gezogen werden.»
Was uns vereint, ist viel stärker
In Erinnerung bleiben wird mir auch der Workshop des Global Christian Forum (GCF). Das Forum vereint Führungspersönlichkeiten aus allen Strömungen der Weltchristenheit. Sie wird von den vier wichtigsten globalen kirchlichen Gremien voll unterstützt, nämlich vom Ökumenischen Rate der Kirchen, der Weltweiten Evangelischen Allianz, dem Päpstlichen Rat für die Einheit der Kirchen und vom Pentecostal World Fellowship, der weltweiten Gemeinschaft der Pfingstkirchen. Das erste Treffen des GCF fand 2002 in Pasadena in den USA statt. Im Workshop ging es vorwiegend um Information und Austausch und um die Frage, wie gut die Zusammenarbeit in den Region und weltweit funktioniert. Mit grosser gegenseitiger Achtung und Wertschätzung wurden über dogmatisch-theologische Themen, Ekklesiologie, Spiritualität, Einheit gesprochen, ebenso über die Frage der Mission, der Evangelisation und wie in Ländern Christ:innen, aber auch Menschen anderer Religionen unterdrückt und verfolgt werden. Es ging konkret um die Frage, wie in solchen Situationen gemeinsam geholfen werden kann und welche politischen Kanäle dafür genutzt werden könnten. «Was uns vereint, ist viel stärker als was uns trennt, wir müssen uns immer fragen, wer am Tisch der christlichen Geschwisterlichkeit fehlt», sagte Jean-Daniel Plüss, Pfingsttheologe und Präsident der Stiftung des GCF.
Immer wieder Begegnungen
«Ich glaube, dass die Einheit mit Beziehungen anfängt – Christus tritt in Erscheinung, wenn wir einander mit Aufmerksamkeit betrachten», sagte die Pfarrerin Susan Durber, ÖRK-Präsidentin für die Region Europa in einem Vortrag. Für mich sind daher ein wichtiger und schöner Teil von Versammlungen, wie jener in Karlsruhe, neue Begegnungen zu wagen und Beziehungen zu pflegen. Es hat mich beispielsweise besonders gefreut eine junge französische, mennonitische Theologin kennenzulernen, die als Steward an der Vollversammlung mitwirkte. Sie sagte, sie sei sehr glücklich und froh für die Gelegenheit an dieser ökumenischen Versammlung in Karlsruhe teilzunehmen. Es sei eine ausserordentliche Chance Menschen aus den vielen Kirchen und Ländern, mit so unterschiedlichen kirchlichen, kulturellen Prägungen und Traditionen zu begegnen. Von Ihren Erfahrungen zu hören und zu lernen. Geschwister, die in ihrem Glauben engagiert sind und nach der Einheit in der Vielfalt streben und unterwegs sind.
Bewegend war für mich auch, Bekannte von früheren Versammlungen des ÖRK wieder zu treffen. Dazu gehörten zum Beispiel Theodosius Mar Thoma Metropolit der Mar-Thoma-Kirche in Indien oder der Bruder Aloïs und zwei Mitbrüder von der Kommunität Taizé. Zudem konnte ich mich mit dem pensionierte waadtländische Pfarrer, Martin Hoegger austauschen, der im Vorstand vom französischen Netz von Global Christian Forum ist, sowie mit Jacob Kikkert, der seit einigen Jahren Pastor in Sambia ist und mit Michael Martin, Pfarrer und Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Offenes Gespräch mit Priester aus Moskau
In Erinnerung bleiben wird mir auch ein ziemlich offenes Gespräch mit einem jungen Priester des Patriarchats von Moskau. Ich versprach ihm, dass ich seinen Namen nicht erwähnen und kein Bild von ihm zeigen werde, wenn ich über unsere Begegnung schreiben würde. Er war dankbar, dass er als Delegierter seiner Kirche an der Vollversammlung teilnehmen konnte, auch wenn einige ihm und der Delegation aus Russland kritisch und mit Ablehnung begegneten. Er sagte, dass die Kirche in Russland vom Staat getrennt sei, und es viele gebe, die sich nicht äusserten. Er fand, dass die Menschen im Westen einseitig informiert würden. Wie bereits im Juni bei der Sitzung des Zentralkomitees in Genf verurteilen sie den Krieg. Er fand, dass der ukrainischen Kirche und deren Delegierten zu viel Aufmerksamt entgegengebracht würde. Er denkt, dass eine direkte Begegnung mit Vertretern der ukrainischen Kirche nicht möglich sei und es nur zu gegenseitigen Anschuldigungen und Vorwürfen kommen würde. Zum Regierungschef Putin und zum Patriarch Kyrill wollte er sich nicht äussern.
Text:
Daniel Geiser-Oppliger