Die Menschen in der Demokratischen Republik Kongo brauchen Frieden, nicht nur Lebensmittel. Das findet Mulanda «Jimmy» Juma, der im Land im Herzen Afrikas das Mennonite Central Committee vertritt. Er weiss seit seiner Kindheit, was es heisst, vor tödlichen Bedrohungen auf der Flucht zu sein. Diese Erlebnisse, zahlreiche Ausbildungen und Jahre der Praxis haben ihn zu einem erfahrenen und engagierten Friedensaktivisten gemacht.
Artikel des
Mennonite Central Committee
Im Jahr 1996 wusste Mulanda «Jimmy» Juma, dass Laurent Kabila einen bewaffneten Aufstand gegen den Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo (damals Zaire) anzettelte. Juma wusste aber nicht, dass Kabilas Kämpfer in das Dorf Mboko kommen würden, wo er damals lebte – bis sie dort waren und anfingen, wahllos in alle Richtungen zu schiessen. Der 23-jährige Universitätsassistent rannte zum Tanganjikasee. Er wusste, dass die dichten Bäume und das Laub entlang des Sees Verstecke boten. Als er noch ein Kind war, hatte seine Familie bei Angriffen bewaffneter Gruppen am Seeufer immer Schutz gefunden.
«Ich konnte sehen, wie Menschen fielen, während ich weglief, Menschen, die ich kannte», berichtet Juma. Zwei seiner Onkel und ihre Familien waren bereits am See, also versteckte er sich bei ihnen. «Als ich am Abend wieder aus dem Versteck kam, war das Wasser im See rot. Menschen, die mit Booten geflohen waren, wurden im Wasser erschossen.» Im Schutz der Dunkelheit bestiegen sie das schmale, etwa viereinhalb Meter lange Fischerboot eines Onkels und ruderten in Richtung Süden, weg von den Rebellen. Die Wellen waren so gross und das Boot so voll, dass es fast kenterte, obwohl sie alles, was sie bei sich trugen, wegwarfen, sogar Jumas wertvolle Schulbücher.
Und so begann Jumas Reise als Flüchtling – eine Reise voller Schmerz und Leid, die ihn schliesslich dazu brachte, Friedensarbeit nicht nur zu studieren, sondern auch zu unterrichten und selbst zu leisten.
Aufwachsen inmitten von Gewalt
Juma machte nicht erst als junger Erwachsener Erfahrungen mit Gewalt. Bevor er 10 Jahre alt wurde, lebte seine Familie im Busch entlang des Sees in der Nähe des Dorfes I’amba. Die Gegend wurde häufig von bewaffneten Gruppen angegriffen, die auf der Suche nach Nachschub waren oder einfach ihre Macht demonstrieren wollten.
Die Gegend war so unsicher, dass Jumas Eltern einen Ort festlegten, an dem sie sich die Familie treffen konnte, falls ihr Dorf angegriffen wurde. Die Kinder wussten, dass sie nie zweimal denselben Weg nehmen durften, weil Soldaten oder Rebellen auf der Lauer liegen könnten. «Wir sind immer geflohen, wenn die Rebellen kamen, um zu stehlen oder zu plündern oder was auch immer. Daran waren wir gewöhnt», sagte Juma.
Trotz dieser Umstände sagt Juma heute, dass er sich in der Liebe seiner Eltern sicher fühlte. Von seinem Vater, Juma Lubambo M’sambya III, dem traditionellen Häuptling der Gegend und Selfmade-Geschäftsmann, lernte Juma Einfallsreichtum, Ausdauer, Integrität und die Bedeutung von Bildung und Beziehungen. Seine Mutter, Mwangaza Lotombo Wa M’landa, Leiterin der Frauenarbeit in der Kirche, lehrte ihn die Bedeutung des Glaubens und des Kirchenbesuchs, auch wenn dies bedeutete, durch gefährliches Gebiet zu gehen. «Das andere, was ich von meinen Eltern gelernt habe, ist das Dienen», sagt Juma im Rückblick. Immer wenn sein Vater Fisch gefangen habe, hätten ihn seine Eltern zu Nachbarn geschickt, um den Fisch mit ihnen zu teilen. «Sie haben uns wirklich ein Herz für den Dienst am Nächsten beigebracht.»
Obwohl er sie wegen der Gewalt nur sporadisch besuchte, war Juma in der Schule erfolgreich. Als Klassenbester in jeder Stufe konnte er die Universität in Bukavu besuchen, wo er Regionalplanung studierte. Während seines ersten Studienjahres absolvierte Juma ein Praktikum und arbeitete mit Jugendlichen in Mboko, um die Entwicklung der Stadt in der Nähe von I’amba zu fördern. Dann kam es zur Schiesserei und er liess alles hinter sich.
Leben als Flüchtling
Nachdem er eine Weile in einem Flüchtlingslager in Tansania mit zu wenig Essen und zu vielen Krankheiten gelebt hatte, kehrte Juma in die Demokratische Republik Kongo zurück. Aber ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen schienen nicht in Sicht. Deshalb konnte er nicht weiterstudieren, war aber auch nicht bereit, zu kämpfen oder andere für den Kampf zu rekrutieren, wie es die Dorfoberhäupter von ihm verlangten. Er begann zu verzweifeln. «Ich habe die Hoffnung und die Richtung verloren. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wir mussten weglaufen», berichtet Juma.
Zusammen mit einem Freund machte er sich zu Fuss auf den Weg – durch Tansania, Malawi und Mosambik. Mehr als ein Jahr lang hielten die beiden es aus, hungrig, mittellos und verloren zu sein. Aber sie überlebten dank der Grosszügigkeit von Fremden, Gelegenheitsjobs und Zwischenstopps in Flüchtlingslagern. Während seiner Reise erfuhr er, dass sein Vater 1998 bei einem Massaker an mehr als 1 000 Menschen ums Leben kam. Über das Rote Kreuz schickte er Briefe an seine Mutter, erhielt aber keine Antwort. Die Ungewissheit über den Verbleib seiner Familie wurde zu einem ständigen Begleiter. Gleichzeitig wuchs der Wunsch, den Tod derer zu rächen, die er gekannt und geliebt hatte.
Jumas Reise führte ihn 1999 schliesslich nach Durban in Südafrika. Dort fand er ein Zuhause unter vielen anderen Flüchtlingen. Doch weil der Rassismus auch in der Zeit nach der Apartheid anhielt, wurden Flüchtlinge oft hart und unfreundlich behandelt. Mit Hilfe seiner Führungsqualitäten und seiner guten Englischkenntnisse begann Juma, sich bei Regierungsvertreter:innen, Kirchenführer:innen und einflussreichen Mitgliedern politischer Parteien für eine Verbesserung der Situation von Flüchtlingen einzusetzen. «Ich hatte keine Ausbildung, aber ich war kreativ genug, um jede Gelegenheit zu nutzen», sagt er. Als er auf einer Konferenz als Referent auftrat, erzählte ihm ein Teilnehmer vom Mennonite Central Committee (MCC), einer Organisation, die Menschen in der Friedensarbeit ausbildet. «Ich dachte mir: ‹Frieden studieren? Gibt es so etwas wie ein Friedensstudium?»
Ausbildung zu Traumaheilung und Friedensförderung
Juma suchte das Büro von MCC in Durban auf, um mehr über dieses «Friedensstudium» zu erfahren. Suzanne Lind, die dort als MCC-Vertreterin arbeitete, erinnert sich noch heute an diese Begegnung: «Mich hat sein sanfter Geist, die leuchtenden Augen und die Leichtigkeit überrascht, mit der man sich mit Jimmy unterhalten konnte», sagte sie später. «Und ich war beeindruckt von Jimmys Beharrlichkeit, mehr über Friedensförderung zu lernen und denjenigen zu helfen, die traumatisiert wurden.»
Als Lind Juma besser kennenlernte, merkte sie, dass er zögerte, über sein eigenes Trauma zu sprechen. Darum lud sie ihn 2001 ein, an einem MCC-Traumaheilungsprogramm teilzunehmen. «Ich entdeckte, dass ich dieses Trauma schon lange mit mir herumtrug», sagt Juma im Rückblick. «Bei diesem Training habe ich geweint, als ich meine Geschichten erzählte, schmerzhafte Geschichten. Die ganze Gruppe kam zu mir, umarmte mich und gab mir Unterstützung. Ich fühlte mich erleichtert und hatte wirklich das Gefühl, dass eine gewisse Last von mir abgefallen war – Dinge, die in meinem Leben passiert waren, wogen plötzlich weniger schwer.»
Im darauffolgenden Jahr finanzierte ihm MCC eine Ausbildung am Africa Peacebuilding Institute (API). Diese richtet sich an Afrikaner:innen, die mehr darüber erfahren wollen, wie sie in ihren Gemeinschaften Frieden schaffen und Traumata bewältigen können.
Juma berichtet, dass er im Programm neue Wege und Ansätze im Umgang mit Gewalt kennengelernt habe. Er habe so von seinen Racheplänen ablassen können. «Ich habe gelernt, dass ‹Auge um Auge› die Menschen nur blind macht. Ich will nicht, dass noch mehr Menschen blind werden. Ich möchte eigentlich, dass mehr Menschen sehen können.»
Den Menschen helfen, zu sehen
Juma nutzte von da an jede Gelegenheit, sich in Friedensförderung weiterzubilden und sich dafür stark zu machen – auch wenn er auf verschiedene Jobs arbeiten musste, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er war der Meinung, dass die besonders die jungen Geflüchteten in Durban Frieden erfahren sollten. Daher und führte in den vier Jahren nach seinem Studium am API mehrere Programme zur Friedensförderung durch, eines davon in Zusammenarbeit mit MCC. Für das Programm wählte er die Jugendlichen mit den meisten Problemen aus und lehrte sie, wie sie Konflikte lösen und ihre Wut bewältigen können und wie es ihnen gelingt gewaltfrei zu kommunizieren und ihr Trauma zu verstehen. «Es gab wirklich Veränderungen im Leben der jungen Leute, die das Training absolvierten», berichtet er.
Er sah auch, dass in seiner Kirche Friedensarbeit nötig war. Sie wurde überwiegend von Weissen Menschen besucht und der Rassismus gegenüber den Schwarzen Gemeindemitgliedern war unverhohlen. Obwohl viele seiner Schwarzen Freund:innen die Kirche verliessen, entschied er sich, nach jedem rassistischen Vorfall zu bleiben, weil er glaubte, dass sich etwas ändern könnte. Als er mit den Pastoren zusammenarbeitete, um die Ungerechtigkeit anzusprechen, beharrlich Beziehungen aufbaute und die soziale Interaktion zwischen den verschiedenen Gruppen förderte, änderte sich die Einstellung. Das Lächeln wurde echt, Schwarze und Weisse umarmten sich. Und als er 2006 nach Sambia zog, fühlte er sich geliebt und akzeptiert.
Juma erkannte, dass Frieden entstehen kann, wenn die Menschen wissen, wie sie Konflikte lösen und sich in ihrem Umfeld für Frieden einsetzen können. Deshalb sagte er gerne zu, als ihn ihn Carl Stuffer, der damalige MCC-Friedensbeauftragter für den Süden Afrikas, anfragte, Traumaheilungsgruppen zu leiten und im Rahmen von verschiedenen Schulungsprogramen Friedensarbeit zu unterrichten. Als Dozent und Lehrer konnte er inzwischen nicht nur auf die eigenen Erfahrungen in der Friedensarbeit und auf die Erkenntnisse aus seiner Ausbildung am API zurückgreifen, sondern auch auf das Wissen, das er sich in im Rahmen eines Masterstudiums in Peace Studies and Conflict Resolution an der Universität von KwaZulu-Natal in Südafrika angeeignet hatte.
Später, als Juma in Sambia für das Dag Hammarskjöld Institute for Peace and Conflict Studies arbeitete, stellt er fest, dass es zunehmend Spannungen und Konflikte gab zwischen den Geflüchteten im Land und den Sambier:innen. Er begann sich für Frieden zwischen den Gruppen einzusetzen. In seiner Freizeit gründete er zusammen mit zwei anderen kongolesischen Geflüchteten – Kiota Mufayabatu und Issa Ebombolo – einen Peaceclub in der Hauptstadt Lusaka. Dieser «Friedensklub» bot den Geflüchteten und den Sambier:innen die Gelegenheit, gemeinsam über Friedensarbeit zu lernen. In der Folge nahmen die Spannungen zwischen den beiden Gruppen ab. Mit der Unterstützung des MCC wurden weitere Peaceclubs gegründet – unter der Leitung von Ebombolo auch an Schulen.
Juma wurde Professor, heiratete und machte in Italien einen Doktortitel in Politik, Menschenrechten und Nachhaltigkeit an der Scuola Superiore Sant’Anna. Als MCC Juma 2012 einlud, Stauffer als MCC-Friedensbeauftrager abzulösen, nahm er an. In dieser Funktion vermittelte er bei Konflikten innerhalb von Organisationen, half bei der Ausbreitung von Peaceclubs in Südafrika und Nigeria und koordinierte die Ausbildung vieler afrikanischer Friedensstifter:innen am API. Auf seinen Reisen durch das südliche Afrika ermutigte er API-Absolvent:innen überall wo sie lebten, friedensfördernde Projekte zu starten. «Für mich war es eine Freude zu sehen, wie diese Friedensinitiativen im südlichen Afrika aufblühten», sagte Juma.
Zurück in die Demokratische Republik Kongo
2017 beschloss Juma, zum MCC-Vertreter in der Demokratischen Republik Kongo zu werden und in sein Heimatland zurückzukehren. Dafür lehnte er sogar eine Stelle bei der Afrikanischen Union ab. «Ich bin in den Kongo zurückgekehrt, weil ich die Möglichkeit haben wollte, hier einen kleinen Beitrag zum Frieden und zur Entwicklung zu leisten», sagt er. Sehr schnell hatte er die Möglichkeit, beides zu bieten, auch wenn seine Frau in Südafrika Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen, zur Welt brachte. Stauffer, der heute ausserordentlicher Professor an der Eastern Mennonite University in Harrisonburg in Virginia ist, sagt zu diesem Schritt: «Mit all seinen Erfahrungen und seiner Ausbildung könnte er überall auf der Welt arbeiten. Und doch hat er sich bewusst und aus Prinzip dafür entschieden, zu bleiben und seine Zeit und Energie dem Aufbau eines ‹gerechten Friedens in Afrika zu widmen.» Sein Engagement für sein Volk und den afrikanischen Kontinent sei unerschütterlich.
Ein gewaltsamer Konflikt in der Kasai-Region trieb zwischen 2016 und 2017 mehr als 1,4 Millionen Menschen in die Flucht. Drei verschiedene kongolesische mennonitische Kirchenverbände halfen bei der Versorgung der Notleidenden mit Lebensmitteln, Kleidung und Unterkünften. Während mennonitische Organisationen auf der ganzen Welt Geld sammelten, begann Juma, die Mennonit:innen vor Ort darauf vorzubereiten, grosse Verteilaktionen durchzuführen. Dabei erkannte er bald, dass es zwischen den Kirchenverbänden seit langem bestehende Ressentiments gab, die eine Zusammenarbeit schwierig machten. Erneut war er als Friedensstifter gefragt. «Ich begann für die Mitglieder der Hilfsausschüsse der drei Kirchenverbände gemeinsame Workshops zu organisieren, damit sie alle zusammen die gleichen Dinge lernen konnten», so Juma. Es ging um praktische Dinge, beispielsweise, wie man ein Hilfsprojekt organisiert, damit die Durchführung reibungslos verläuft. In den Workshops äusserten die Teilnehmenden dann viel Wut und Kritik gegenüber MCC geäussert und auch gegeneinander. Juma reagierte friedlich. «Die Haltung, sie nicht zurückzudrängen, nicht wütend auf sie zu sein und ihnen zu erlauben, ihre Meinung zu sagen und sich sicher zu fühlen, wenn sie ihre Meinung sagen, hat eine Beziehung zwischen mir und den mennonitischen Kirchen entstehen lassen», sagte er. Und auch die Beziehungen zwischen Hilfsausschüssen wurden seien verbessert und gestärkt worden. Im Laufe der Zeit führten die drei Kirchenverbände mehrere Verteilaktionen in der Region Kasai durch. Zwei von ihnen leiten auch heute noch Landwirtschaftsprojekte mit Vertriebenen und Workshops zur Traumaheilung.
Juma kann das Leid, das er in Kasai miterlebt hat, nachempfinden und sehnt sich nach einem Ende der Situation. «Manchmal blicke ich auf die Situation zurück, die ich selbst erlebt habe, und ich möchte nicht, dass andere Menschen so etwas durchmachen müssen. Ich möchte nicht, dass jemand so leidet, wie ich es tat. Ich möchte nicht, dass meine Kinder leiden müssen. Ich will nicht, dass Frauen vergewaltigt werden”, sagt er. Deshalb fragt er sich immer wieder, was er tun kann, um Heilung und Frieden zu schaffen. 2010 führte er für MCC eine Bedarfsanalyse durch. Dabei fragte er einen Mann, der in einer Gegend lebte, die von Rebellengruppen kontrolliert wurde, was er und sein Umfeld zum Überleben bräuchten. «Gebt uns Frieden und den Rest machen wir selbst», sagte dieser Mann zu ihm. Andere erklärten Juma, dass sie zwar wüssten, wie man Getreide anbaue. Aber wenn die Zeit der Ernte gekommen sei, nähmen die Rebellen und die Soldaten die Ernte für sich selbst. «Genau deshalb denke ich, dass ich mich für Frieden einsetzen muss. Denn das ist es, was die Menschen wirklich wollen und brauchen. Sie wollen keine Lebensmittel. Sie wollen keine Kleidung. Sie wollen Frieden, denn wenn dieser herrscht, können die Menschen für sich selbst sorgen», sagt Juma.
Text:
Linda Espenshade
Dieser Artikel wurde zuerst auf der Website des Mennonite Central Committee veröffentlicht. Für menno.ch wurde er übersetzt und leicht gekürzt.