Der Krieg zwingt viele Ukrainer:innen zur Flucht, auch in die Schweiz. Zu den Menschen, die ihnen dabei helfen und sie hier betreuen gehören auch Mitglieder aus den Schweizer Mennonitengemeinden. So zum Beispiel Dorothea Loosli, Paul Gerber und Dorli und Ernst Bühler. Die vier berichten was sie bei ihrem Engagement erleben und was sie zu diesem bewegt hat.
«Dann heisst es irgendwo wieder: Fragt am besten bei der Loosli nach.» Die «Loosli» heisst zum Vornamen Dorothea. Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, ist sie pausenlos auf Achse und oft am Telefon. Mit ihrem Mann Beat hat sie dem Verein «Bär und Leu» geholfen, ukrainische Frauen und Kinder via Polen in die Schweiz zu bringen. Hier haben sie ihnen einen Ort zum Leben organisiert, vorwiegend im Berner Oberland und begleiten sie nun im Alltag. Und im Berner Oberland hat sich Dorothea mit ihrem Engagement derart einen Namen gemacht, dass bei vielen Anliegen rund um die Unterbringung von Menschen aus der Ukraine sie angerufen wird – manchmal noch vor dem Frühstück. Ihre Tage seien im Moment nicht planbar, sagt Dorothea. «Für mich ist diese Zeit ein Kurs in Flexibilität.»
Besonders verletzliche Menschen evakuieren
«Bär und Leu» ist schon lange in der Ukraine tätig. Dorothea, Mitglied bei der Evangelischen Mennoniten-Gemeinde Bern und eigentlich selbstständige Entwicklungsberaterin, lernte den Verein zu ihrer Zeit als Grossratspräsidentin des Kantons Bern kennen und arbeitete dann bei zwei Projekten mit: eines zur Verbesserung der Situation im ukrainischen Strafvollzug und ein Projekt, dass es möglich machte, dass Waisen und Kinder aus zerrütteten Familien nicht in Heimen, sondern in Familien betreut werden. In dieser Zeit sind viele Beziehungen und Freundschaften entstanden, die bis heute halten. «Als nun Russland in der Ukraine einmarschierte, kam bald die Anfrage von unseren Partnern in der Ukraine, ob wir nicht helfen könnten, diese Kinder mit ihren Betreuenden in der Schweiz in Sicherheit zu bringen», erzählt Dorothea.
Beat und Dorothea mussten nicht lange überlegen: Zusammen mit «Bär und Leu» und in enger Zusammenarbeit mit «Zugang B», der Stiftung, die für den Kanton Bern unbegleitete minderjährige Asylsuchende betreut, bereiteten sie so schnell wie möglich alles vor. Sie suchten Unterkünfte, machten die nötigen Abklärungen bei Bund und Kanton. Sie organisierten Busse für den Transport und sandten ein Care-Teams an die polnische Grenze und dann kam erst mal alles anders: «Plötzlich erfuhren wir, dass die Ukraine die Kinder doch nicht ausreisen lässt, sondern sie zuerst alle registrieren will.»
Nicht auf Standby gehen
Dann meldeten sich die Partner in der Ukraine mit einem anderen Anliegen: Ob «Bär und Leu» bereit wäre, statt der Heimkinder Frauen und Kinder aus den Projekten sicher in die Schweiz zu bringen – eine besonders verletzliche Gruppe, die es bereits in der Ukraine schwer hatte. Viele dieser Frauen würden oft nicht nur mit den eigenen Kindern das Land verlassen, sondern auch noch jene von Verwandten und Bekannten mitnehmen. Das bringe gewisse Risiken mit sich. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen, sei für sie beispielsweise schwierig. «Da ist es schnell geschehen, dass plötzlich eines der Kinder verloren geht.»
Gemeinsam mit «Zugang B» beschloss «Bär und Leu», nicht auf Standby zu gehen, sondern auf dieses Bedürfnis zu reagieren. So fuhr der Bus nicht leer aus Polen zurück in die Schweiz, sondern mit einer Gruppe von 32 Frauen und Kindern sowie unter anderem einem Meerschweinchen, einer Katze und einem Hund. Untergebracht wurden sie vorerst im Jura im Lagerhaus Les Mottes der Evangelischen Mennonitengemeinde Sonnenberg. Dorothea hatte diese Unterkunft ursprünglich für die Gruppe von Waisenkindern mit ihren Betreuungspersonen organisiert. «Als Dorothea fragte, ob wir auch Frauen mit Kindern aufnehmen würde, mussten wir aber nicht lange überlegen und haben das rasch und unkompliziert beschlossen», sagt Paul Gerber. Er ist Ältester der Mennonitengemeinde Sonnenberg und koordinierte mit seiner Frau Marlyse die Unterbringung.

Paul und Marlyse Gerber haben die Unterbringung der Frauen und Kinder aus der Ukraine im Lagerhaus Les Mottes koordiniert. Sie sind Mitglieder der Evangelischen Mennonitengemeinde Sonnenberg.
Fünfzehnköpfiges Betreuungsteam
Betreut wurden die Frauen und Kinder in im Jura von einem fünfzehnköpfigen Team, das die Mennonitengemeinde Sonnenberg extra zusammengestellt hatte. Die Gruppe kümmerte sich um alle Anliegen der Menschen aus der Ukraine, ging für sie einkaufen und kochte am Anfang auch noch für alle. «Es hat sich aber schnell herausgestellt, dass die Frauen gerne selbst für sich kochen», berichtet Paul. Und an einem Sonntag luden die Frauen gar die ganze Gemeinde zum Zmittag ein. Da sich die Menschen in der Gruppe untereinander noch nicht gekannt hätten, sei das Lagerhaus mit seinen Matratzenlagern und wenigen Einzelzimmern eigentlich nicht ganz ideal gewesen, hält Paul rückblickend fest. Letztlich hätten sich aber alle gut mit der Situation arrangiert. «Die besonderen Umstände haben alle zusammengeschweisst.»
Sinnvoller Zwischenstopp
Bei der Gruppe im Jura habe sich gezeigt, dass es ein guter Entscheid gewesen sei, die Menschen nicht direkt bei Privatpersonen unterzubringen, sagt Dorothea. «Für die Frauen und Kinder ist das Erlebte der Horror pur.» Ein gemeinsamer Zwischenstopp in der Schweiz gebe ihnen die Gelegenheit, erstmal durchzuatmen und sich auszuruhen. «Es ist in diesem Moment und auch später wichtig, dass sie füreinander da sein können.» Gemäss Dorothea hätten alle ein ähnliches Schicksal erlebt: die Invasion, die Trennung von ihren Männern und Vätern, die Flucht. «Und wenn dann traurige Nachrichten von der Front kommen, können sie einander in den Arm nehmen. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann schwer nachvollziehen, was das bedeutet.»
«Bär und Leu» entschied daher, an diesem Ablauf festzuhalten. Auf der Suche nach weiteren Ankunftsmöglichkeiten wurde dem Verein schliesslich die Alpinebase in Lauterbrunnen angeboten. Der Verein beschloss, das Hostel, das sonst von Basejumpern und anderen Abenteuersportlern gebucht wird, als Drehscheibe zu nutzen. Während dem Zwischenstopp im Jura oder in Lauterbrunnen können die Frauen nicht nur durchatmen. Er gibt ihnen auch Zeit, sich zu überlegen, wo sie in der Schweiz leben möchten. «Haben die Frauen irgendwo Verwandte in Europa, so halfen wir ihnen, dorthin zu kommen. Für die, die in der Schweiz bleiben wollen, suchten wir eine Wohnung.»
Zeitintensive Suche nach Unterkünften
Für die Gruppe im Jura übernahm die Mennonitengemeinde Sonnenberg die Wohnungssuche. «Ich habe selten in so kurzer Zeit so viel telefoniert», berichtet Paul Gerber. Da der Landwirt wegen einer Operation zurzeit nicht auf seinem Betrieb arbeiten kann, war die Vermittlung eine willkommene Beschäftigung. In einem ersten Schritt mussten er und Marlyse herausfinden, wer überhaupt genau zusammengehört. «Wir waren froh, wurden wir dabei von einer Frau aus der Region unterstützt, die ukrainische Wurzeln hat und für uns übersetzen konnte», sagt Paul.
Bei der Suche nach Unterkünften setzten sie auf persönliche Kontakte – auf die eigenen und jene von anderen Mitgliedern der Mennonitengemeinde Sonnenberg. Letztlich hätten sie für alle Personen einen passenden Platz gefunden. Die letzten Personen verliessen das Lagerhaus im Jura zwei Wochen nach ihrer Ankunft. Es sei nicht allen gleich leicht gefallen weiterzuziehen, berichtet Paul. «Ein zweijähriges Mädchen musste weinen, den Ort und die Menschen schon wieder zu verlassen, an den sie sich eben erst gewöhnt hatte.»
Den vielen Platz teilen
Ein grosser Teil der Gruppe reiste nach Yverdon weiter, einige Personen kamen in Romanshorn oder Nidau unter und einige im Berner Jura, zum Beispiel bei Dorli und Ernst Bühler. Das pensionierte Ehepaar aus Mont-Tramelan ist Mitglied bei der Mennonitengemeinde Sonnenberg und hat Kateryna, eine junge Frau, mit ihrem einjährigen Sohn bei sich aufgenommen. «Es ist schön jemandem konkret helfen zu können», sagt Ernst. Seit ihre Kinder ausgeflogen seien, hätten sie viel Platz. «Es hat mich schon fast geplagt, dass wir so viel nur für uns zwei haben.» Er und Dorli seien sich daher schnell einig gewesen, diesen zu teilen. Kateryna, die aus Kramatorsk im Osten der Ukraine kommt, bewohnt mit ihrem Sohn bei Bühlers nun zwei Zimmer und hat ein eigenes Badzimmer mit Dusche. «Essen tut sie mit uns. Das schätzt sie», berichtet Ernst. Auch wenn sie aus einer Grossstadt mitten im «Gjätt» gelandet sei, scheine sie sich wohlzufühlen.

Ernst und Dorli Bühler aus der Evangelischen Mennonitengemeinde Sonnenbeg haben eine junge Ukrainerin und ihren Sohn bei sich aufgenommen.
Dorli und Ernst unterstützen Kateryna bei allem Administrativen rund um ihr Leben in der Schweiz und begleiten sie bei Behördengängen. Zudem versuchen sie, soweit sie das wünscht, ihr Begegnungen zu ermöglichen, sei es mit Gleichaltrigen oder anderen Menschen aus der Ukraine. Kateryna hilft auch gerne im Haushalt mit. «Sie ist froh, dass sie etwas machen kann», sagt Dorli. Kommunizieren tun die drei mittels Übersetzungsapp auf dem Smartphone. Ein richtiges Gespräch könne man auf diese Weise zwar nicht führen. «Das ist schade.» Aber für alles andere funktioniere diese Methode gut. «Zumindest, wenn ich das Handy nicht gerade verlegt habe», lacht Dorli.
Es braucht Kraft, Zeit und Geld
Dorli und Ernst raten Leuten, die Menschen aus der Ukraine bei sich aufnehmen möchten, sich das zuvor gut zu überlegen. «Wir haben den Entscheid bis jetzt nicht bereut. Aber es braucht Kraft und Zeit.» Das müsse man sich bewusst sein. Und natürlich auch Geld. Die Mennonitengemeinde Sonnenberg trägt zwar die Kosten mit, bis die junge Frau Schutzstatus S erlangt und vom Staat unterstützt wird, aber das reicht nicht für alles. Letztlich müsse man sich auch im Klaren sein, dass man eine längere Verpflichtung eingeht und dazu bereit sein. «Für Kateryna hoffen wir natürlich, dass sie schon bald wieder sicher in die Ukraine zurückkehren kann. Aber es könnte auch sein, dass sie an Weihnachten noch bei uns ist», sagt Ernst.
Frauen und Kinder bei Bekannten unterbringen
Für die Frauen und Kinder, welche die ihren Zwischenstopp in Lauterbrunnen verbrachten, übernahm «Bär und Leu» die Suche nach Unterkünften selbst. Viele von ihnen leben mittlerweile im Berner Oberland bei Privatpersonen oder in Ferienwohnungen. Dort werden sie von freiwilligen Helfer:innen weiter unterstützt. Zum Beispiel bei Behördengängen, Einschulungsfragen und Alltagsproblemen. Und auch «Bär und Leu» unterstützt die Frauen und Kinder finanziell, bis der Staat übernimmt. Bei der Suche nach Unterkünften setzte der Verein auch in erster Linie auf Bekanntschaften. «Uns war wichtig, dass wir die Leute kennen, die eine Unterkunft anbieten. Das gibt eine gewisse Sicherheit, dass die Unterkünfte gut und die Gastgebenden der Sache gewachsen sind», sagt Dorothea Loosli.
In Innertkirchen hat «Bär und Leu» unterdessen auch ein Bildungsprojekt lanciert. Unter den evakuierten Frauen sind einige Lehrerinnen, sagt Dorothea. «Als wir auf dem Weg ins Berner Oberland waren, hatten Beat und ich plötzlich die Idee, dass diese eigentlich die ukrainischen Kinder hier in der Schweiz selbst Schule geben könnten.» Viele der Kinder sind via Fernunterricht mit der Ukraine verbunden und könnten so von einer Lehrerin betreut weiterhin gemäss ihrem System unterrichtet werden. Ergänzend könnten sie Fächer wie Werken und Sport zusammen mit den Kindern aus der Schweiz besuchen. Als die Vorsteherin der Bildungs- und Kulturdirektion (Dorothea kennt sie aus ihrer Zeit im Grossen Rat im Kanton Bern), von der Idee hörte, zögerte sie nicht lange und gab grünes Licht für ein Pilotprojekt. Ende März konnte in Innertkirchen im Oberhasli eine erste sogenannte Willkommensklasse starten.
Über 250 Frauen und Kinder evakuiert
Bis heute hat «Bär und Leu» zusammen mit verschiedenen Organisationen und Helfer:innen 64 Kleinkindern, 90 Kinder und Jugendlichen und 98 Frauen die Flucht aus dem Kriegsgebiet ermöglicht. Auch die Waisenkinder, für die das Lagerhaus Les Mottes ursprünglich vorgesehen war, konnten schliesslich evakuiert werden und werden nun von «Zugang B» betreut. Unterdessen musste der ukrainische Evakuierungsdienst, mit dem «Bär und Leu» zusammenarbeitet, die Evakuierungsroute aus Sicherheitsgründen aussetzen. So kommen heute auf diesem Weg keine weiteren Frauen und Kinder mehr die Schweiz. Zudem hätten die Behörden ihre Abläufe im Umgang mit den Menschen aus der Ukraine nun aufgegleist, sagt Dorothea. «Für uns wird es innerhalb der neuen Vorgaben kaum mehr möglich sein, diese verletzliche Menschengruppe auf unsere Weise zu evakuieren.»
«Bär und Leu» konzentriert sich deshalb nun auf die Begleitung der Menschen, die bereits hier sind. Diese sei teilweise sehr intensiv und anspruchsvoll, berichtet Dorothea. «Denn besonders verletzlich bedeutet, dass viele dieser Menschen bereits eine schwierige Geschichte aus der Ukraine mit sich bringen. Zusammen mit dem Kriegsgeschehen ist die Grenze des psychisch Erträglichen überschritten.» Es gebe noch viel zu tun – und dies mit der nötigen Flexibilität, damit die Frauen auch jederzeit wieder zurückkehren können.
Menschen helfen gibt dem Leben Sinn
Woher nimmt Dorothea die Energie und die Motivation dranzubleiben? «Menschen helfen, füreinander da sein, das gibt dem Leben Sinn. Sinn ist nicht etwas, das wir bekommen, sondern etwas, das wir geben. Wir sind Beziehungswesen und für andere da zu sein und gebraucht zu werden macht glücklich», sagt Dorothea. Das werde uns bereits in praktisch jeder Geschichte der Bibel eindrücklich gespiegelt und das sei heute nicht anders. Dabei ist Dorothea wichtig, dass allen Menschen gleich geholfen wird, egal, wer sie sind und woher sie kommen. Darum steckt sie auch in einem Dilemma, was das Engagement für die Menschen aus der Ukraine anbelangt: «Die Offenheit und Hilfsbereitschaft für die Ukrainer:innen macht mir grosse Freude. Gleichzeitig bereitet es mir unglaubliche Mühe, dass dabei alle anderen vergessen gehen, die ähnlich viel Aufmerksamkeit bräuchten.» So etwas sei für den Frieden auf der Welt nicht förderlich.
Auch Paul Gerber beschäftigt diese Ungleichbehandlung. Er ist zwar dankbar, dass er den Frauen und Kinder helfen konnte, zusammen mit den anderen Mitgliedern der Mennonitengemeinde Sonnenberg: «Für uns war es eine Chance, unseren Glauben konkret zu leben: Menschen ein Dach über dem Kopf bieten und Liebe und Menschlichkeit weitergeben – anstatt über theologische Fragen zu streiten.» Gleichzeitig wünscht er sich aber, dass beispielsweise Geflüchtete aus Syrien das Gleiche erfahren dürften.