Kurzfassung einer Predigt über Matthäus 5, 38-48, gehalten am 10. September 2023 bei der Evangelischen Mennoniten-Gemeinde Bern
«Wir sind Familie!» – unter diesem Motto hat die mennonitische Weltkonferenz (MWK) dieses Jahr zum Feiern des Friedenssonntags eingeladen. Bei diesem Satz denke ich an einige steile Aussagen an der Weltversammlung der MWK in Indonesien letztes Jahr. Da haben Pastoren von den Beziehungen zu Muslimen erzählt. Und dabei fiel mehrmals der Satz: «Wir sind Geschwister, und dass wir Geschwister sind, beschränkt sich nicht auf die Angehörigen des eigenen Glaubens. Wir sind Geschwister, weil wir als Menschen Geschöpfe Gottes, des einen Vaters, sind.» Das waren keine naiv dahingesagten Worte. Sie wussten durchaus, dass das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen in diesem Land oft spannungsvoll war, oft auch von Gewalt geprägt. Gerade deswegen erinnerten sie uns daran, dass wir Menschen alle Geschwister seien, dass es um mehr geht als nur gute Nachbarschaft. Aber Glaubensgeschwister?
In der Bergpredigt verbindet Jesus die Aufforderung, auch den Feind zu lieben, mit der Begründung, dass Gottes Fürsorge sich nicht auf die Gerechten, die Guten, beschränkt. Viel ist geschrieben worden, in welchem Kontext die Aufforderungen zu lesen sind: die andere Wange hinhalten, den Mantel dazu geben, wenn einer von mir das Hemd fordert, die zweite Meile mitgehen. Sind es Beispiele von Widerstandlosigkeit, oder – wie Walter Wink sie liest – Beispiele von Widerstand, der nicht Unrecht und Gewalt mit Gewalt und oft neuem Unrecht widersteht, sondern die Beziehung auf eine neue Ebene stellt? So werden neue Fragen aufgeworfen, neue Handlungsmöglichkeiten entstehen, und es öffnet sich ein Weg, wie Gewalt überwunden werden kann. Wie auch immer wir sie interpretieren: Das eigentlich Erstaunliche ist, dass Jesus hier das Gesetz des Moses als Grundlage nimmt für die Beziehung zwischen zwei Völkern, zwischen Römer und Juden, Besatzer und Besetzten.
Denn das Gesetz des Moses setzt voraus, dass das Volk einen Bund mit Gott eingegangen ist, dass alle im Volk sich diesem Bund verpflichtet sehen. Die Gesetze regeln das Leben in diesem Bund. Aber Römer und Juden verbindet kein solcher Bund. Diese Völker sind sich nicht nur fremd, die Juden leiden unter der brutalen Herrschaft der Römer. Dennoch weitet Jesus seine Anweisung in aller Selbstverständlichkeit auf Situationen aus, die sich im Umfeld der Beziehungen zwischen Angehörigen dieser Völker abspielen: Ein Besatzer ohrfeigt verächtlich den Unterdrückten mit dem Handrücken, ein römischer Soldat zwingt einen Juden sein Gepäck zu tragen. Implizit sagt Jesus mit seinen Beispielen: Wir alle sind Familie! Und die Römer gehören dazu.
Jesus geht nicht davon aus, dass wir mit der Liebe zum Feind seine Feindschaft überwinden. Jesus fordert uns auf, die Feinde als Feinde zu lieben. Dabei ist Liebe eine Tat, die immer wieder sagt: Ich will, dass du bist, dass dein Leben Raum hat und zum Blühen kommt. Wenn ich den Feind lieben will, dann muss ich unter dem, wie ein Mensch ist, immer noch etwas sehen, wo dieser Mensch Mensch als Geschöpf Gottes ist. Gott gesteht nicht nur denen einen Lebensraum zu, die sich nach Gott richten – «Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.» Menschen sind von etwas getragen, das nicht zerstört wird durch ihre Lebensweise. Sie bleiben von Gott geliebt und gewollt. Das ist die Grundlage der Liebe zum Feind. Es ist ein Schritt in die Freiheit: Ich nehme mir die Freiheit, mich nicht von seiner Feindschaft bestimmen zu lassen, meine Beziehung zu ihm frei aufzubauen, ihm als Mensch zu begegnen. Gott nimmt sich diese Freiheit.
Für Gott ist der Preis hoch, so vollkommen zu lieben. Wir werden es wohl nie ergründen, was der Tod Jesu am Kreuz für Gott selbst bedeutet: Der Mensch, mit dem Gott bis ins Letzte eins ist, dieser Mensch und Gott lässt sich lieber von denen vernichten, die in ihm ihren Feind sehen, als dass er seine Feinde der Vernichtung preisgäbe. Jesus weiss, dass dies der Preis der Vollkommenheit ist. Den Feind zu lieben bedeutet dann also, dass ich mich dieser Bewegung Gottes anschliesse. Er sammelt uns zur Familie.
«Liebt eure Feinde» ist ein fernes Ziel. Wo ich es vor Augen behalte, gibt es mir klare Orientierung von Schritt zu Schritt, auch wenn ich weit hinter dem Ziel zurückbleibe. Dass ich auf diesem Weg bleiben möchte, hat wohl etwas damit zu tun, dass ich diesen gekreuzigten Gott mir zur Seite weiss, Gott, der diesen Weg mitgeht und bedingungslos sein ganzes Leben mit mir teilt. Und dieses Wort vom Kreuz bleibt das Wort der Liebe: Ich will, dass du bist. Uns allen zugesprochen. Wir sind Familie.
Predigt:
Jürg Bräker, Theologe bei der Evangelischen Mennoniten-Gemeinde Bern und Generalsekretär der Konferenz der Mennoniten der Schweiz