Vom 5. bis am 11. Juli hat in Indonesien die 17. Weltverammlung der Mennonitischen Weltkonferenz stattgefunden. Das Treffen von Mennonit:innen aus über 44 Ländern war auch inhaltlich stark vom Gastgeberland geprägt. In Indonesien leben verschiedene Religionen nicht nur nebeneinanderher, sondern oft auch geschwisterlich miteinander.
Erst im Rückblick wird mir bewusst, wie sehr die 17. Weltversammlung der Mennonitischen Weltkonferenz (MWK) davon geprägt war, dass sie in Indonesien stattfand. Es ist ein langer Weg dorthin. So hatte ich Zeit, mich wenigstens unterwegs etwas einzulesen in die religiöse Landschaft des Landes, in die sich die drei Mennonitischen Konferenzen Gereja Injil Tanah Jawa (GITJ), Gereja Kristen Muria Indonesia (GKMI) und Jemaat Kristen Indonesia (JKI) eingliedern. Die Namen und Abkürzungen kann ich mir bis heute nicht merken, aber was ich vom Leben dieser Gemeinden kennenlernte, hat mich tief beeindruckt. Ich wusste, dass fast neunzig Prozent der Bevölkerung Indonesiens Muslime sind, Indonesien aber kein Islamischer Staat ist. Der Gebetsruf des Muezzins begleitete uns durch die Tage und Nächte in Salatiga und Semarang, wo die Veranstaltungen der Weltversammlung durchgeführt wurden. Der Aufruf zum Gebet erklang oft auch dann, als wir selbst am Beten und Singen waren oder einem Vortrag zuhörten. Und unwillkürlich stellte sich die Frage: Nehme ich das als Störung wahr? Was mache ich mit der Zeit, wenn mich der Gebetsruf frühmorgens weckt? Den Ruf selbst annehmen als ein Einladung zum Gebet? Einen Moment innehalten im Bewusstsein, dass wir auf viele Arten beten und doch unter dem Schirm des einen Gottes? Oder doch die Lautsprecher lauter stellen, um den Muezzin zu übertönen?
«Pancasila» und sechs anerkannte Religionen
«Pancasila» ist die in der Verfassung verankerte Philosophie, wie der indonesische Staat mit der Vielfalt der Religionen umgeht. Er anerkennt sechs Religionen, die sich alle zum Glauben an einen Gott bekennen: den Islam mit einem starken mystischen Einfluss durch den Sufismus, den Hinduismus, den Buddhismus, den Konfuzianismus, den Protestantismus und den Katholizismus. Naiv wie wir waren, fragte jemand auf der Interfaith Tour, mit der wir nach der Weltversammlung mehrere Glaubensgemeinschaften besuchten, einen Hindu-Priester, wie sie denn entscheiden würden, wann sie zu welchem Gott beteten. Die Antwort war ein klares Bekenntnis zum Monotheismus: Es gebe nur einen Gott, der höchstens in unterschiedlichen Aspekten in Erscheinung trete. Aber sie würden nur zu einem Gott beten, aus dem alle Lebenskraft und Harmonie komme. Pancasila führt also auch dazu, dass die Weltreligionen in Indonesien in lokal eigener Form praktiziert werden.
Zu Pancasila gehört auch die Verpflichtung zu einer gerechten und zivilisierten Menschheit ebenso wie zu sozialer Gerechtigkeit für alle Volks- und Gesellschaftsgruppen Indonesiens. Einfach ausgedrückt hörten wir das immer wieder im Ausspruch: «Indonesien ist eine Friedensnation.» So hob der Gouverneur von Zentral-Java, Ganjar Pranovo in seiner Rede im Abschlussgottesdienst der Weltversammlung hervor, dass der Präsident Indonesiens soeben nach Moskau gereist sei, um die Regierung Russlands zum Ende des Blutvergiessens aufzufordern; es sei die nationale Pflicht Indonesiens, sich für den Frieden in aller Welt einzusetzen (siehe Box).
Prägendes Engagement für den Frieden
Beeindruckt hat mich, wie stark dieses Engagement für den Frieden die Gemeinden der Mennoniten in Indonesien prägt. Ein Beispiel hat Pastor Didik Hartono erzählt. Die Kirche seiner Gemeinde in Pati steht direkt gegenüber einer Moschee. Das Besondere an dieser Situation: Seit sieben Jahren überspannt ein Dach den Raum zwischen den beiden Gebäuden. So ist ein gemeinsamer Begegnungsraum entstanden, wo sich die Mitglieder beider Glaubensgemeinschaften begegnen, zusammen essen und Feste feiern. «Es scheint, als seien die beiden Häuser des Gebetes ein Haus, denn dieses Dach verbindet das eine mit dem andern, die Kirche mit der Moschee», berichtete Pastor Hartono. Die Christ:innen tun ihr Bestes, um ihre Nachbar:innen zu treffen, die für sie mehr als nur Nachbarn sind. Pastor Hartono machte sehr deutlich, dass sie in ihnen Brüder und Schwestern sehen und mit ihnen als ihre Brüder und Schwester leben. Diese gelebte Toleranz einer gemeinsamen Geschwisterschaft sei quasi die DNA der Mennoniten in Indonesien. Dass man gemeinsam eine Familie sei, sei tief in der Kultur Javas verankert als «Paseduluran» und präge den Lebensstil der Menschen über alle Kulturen hinweg. Sie finde ihren Ausdruck auch in einem Evangelium des Friedens. «Geschwisterschaft liegt den Beziehungen zu allen Menschen zugrunde, sie beschränkt sich nicht auf die Menschen, die dem christlichen Glauben angehören.» Es brauche Nähe, um diese Geschwisterschaft zu leben, auch im Alltagsleben.
Geschwisterschaft aller Menschen unabhängig von deren Religion
Dabei ist die Kirche in Pati kein Einzelfalll. Auf der Interfaith Tour bin ich derselben Haltung mehrmals begegnet. Zum Beispiel in Tempur, dem höchstgelegenen Dorf am Berg Muria in der Region Jepara. In dieser Region entstanden die ersten Mennonitengemeinden in Indonesien. Auch in Tempur steht die Kirche direkt gegenüber der Moschee. Einer der Pastoren der Kirche erzählte nicht nur seinen langen Weg vom extremen Muslim zum Christen, sondern auch vom Zusammenleben mit der Moschee. «Als wir renovierten, halfen sie uns, als sie renovierten, arbeiteten auch Christ:innen aus unserer Gemeinde mit.» Wenn mal an einem Fest der Platz in der Moschee nicht ausreicht, stellen sie ihnen den Kirchenraum zur Verfügung, bei Festtagen von Christen und Muslimen besucht man sich gegenseitig, an Weihnachten etwa feiern auch Muslime das Fest mit.
In Solo, einer Nachbarstadt von Salatiga, hat die Friedensarbeit von Paulus Hartono das Klima der Stadt nachhaltig verändert. Die Stadt war früher von der Gewalt von extremistischen islamistischen Gruppen geprägt. Heute bestimmt der Dialog zwischen Kulturen und Religionen das Klima der Stadt. Diese Beispiele zeigen, was die Geschwister in Indonesien unter dem Thema der Weltversammlung der MWK verstehen: «Gemeinsam Jesus nachfolgen, über Trennendes hinweg.» Dadurch wurde für mich fassbar, wie Leben in der Nachfolge Jesu Christi tatsächlich das Zusammenleben in der Gesellschaft zum Frieden hin prägen kann und über Trennendes hinweg gelebt werden kann.
Einblick in den Glaubensalltag von Mennonit:innen in Indonesien
In einem 10-minütige Video «Transmission Indonesien 2021» berichten zwei Personen über Erlebnisse aus ihrem Glaubensalltag als Mennonit:innen mit Muslim:innen in Indonesien.
«Transmission» ist eine Videoserie, die im Hinblick auf das 500-Jahr-Jubiläum der Täuferbewegung produziert wird.
Pancasila – ein Modell für andere Weltgegenden?
Ich muss eingestehen: Wir in Europa sprechen zwar viel von Toleranz unter den Religionen. Gelebt wird sie aber doch oft so, dass man einander wenig begegnet. Wir leben nicht wirklich in gemeinsam gestalteten Lebensräumen, in denen wir unsere Überzeugungen miteinander ins Gespräch bringen. Oft wird unter Toleranz nur eingefordert, dass der andere das mir eigene Toleranzverständnis akzeptiert; den schweren Weg von gelebter Geschwisterschaft, welche die Unterschiede nicht verwischt und doch an einer gemeinsamen Vision des Friedens arbeitet, sehe ich nur wenig gelebt.
Wäre Pancasila auf Europa übertragbar? Da stehen einige Hindernisse im Weg. In Indonesien gibt es offiziell keine Säkularität wie wir sie verstehen. Unsere Glaubensfreiheit beinhaltet nicht nur die freie Wahl des Glaubens, sondern auch die Freiheit, sich keiner Glaubensgemeinschaft anzuschliessen. Während hier eine Mehrheit der Menschen von sich sagen, sie seien nicht religiös, wäre ein solcher Satz wohl für die meisten Indonesier:innen unverständlich. Sie gehören alle einer Religion an. Insofern lässt sich die Friedenskultur Indonesiens nur beschränkt auf das Zusammenleben in Europa übertragen.
Und doch: Mich fordert das engagierte Miteinander der Glaubensgemeinschaften, in das ich Einblick bekommen habe, heraus, in unserem Toleranzverständnis weiterzugehen. Denn Geschwisterschaft geht doch weiter als freundliche Gastfreundschaft, wo doch klar bleibt, wer der – heimische – Gastgeber und wer der – fremde und fremd bleibende – Gast ist. In Java greifen die Religionen für ihr Miteinander auf eine gemeinsame Kultur Javas zurück, die älter ist als die Religionen. Wie würde das in Europa aussehen? Hier müssten wir wohl nach Wegen suchen, wie ein gemeinsamer Friede für alle in den eigenen Überzeugungen verankert ist, ob diese nun religiös oder nicht-religiös begründet seien.
Predigen öffnen Fenster
Die Predigten zur Eröffnung und zum Abschluss der Weltversammlung haben in diese Richtung einige Fenster geöffnet. Am Eröffnungsabend nahm Tim Geddert die Begegnung von Jesus mit der syrophönizischen Frau als Beispiel, wie Jesus Grenzen überwunden hat. Angelpunkt seiner Auslegung war, dass Jesus nicht von Strassenhunden gesprochen hat, eine verächtliche Redeweise, welche die Unreinheit der Heiden betonen würde, sondern von den Welpen, von Haustieren also, die mit den Kindern spielen, so quasi zum Haushalt gehören und selbstverständlich später vom Essen der Kinder bekommen werden. Plötzlich ist da Zärtlichkeit statt herber Verachtung. Plötzlich steht da ein «noch nicht» statt ein «mein Brot ist nicht für euch.» Plötzlich sehen Jesus und die Frau gemeinsam, dass auch die Heiden zur Gemeinschaft derer gehören werden, die das Brot im Reich Gottes teilen werden. Sie haben eine gemeinsame Vision, und mit der Bitte der Frau wird die Zukunft schon Gegenwart.
«We will all go home together!» Wir werden alle gemeinsam heimkehren! So eröffnete Nindyo Sasongko seine Predigt am Abschlusstag. «Was meint er?», fragte ich mich. Denn viele der Feiernden hatten ja schon ihren Abflug nach Hause vor Augen. Die einen waren sogar schon weg, andere hofften, nach dem bald drei Stunden dauernden Gottesdienst vor der Heimreise noch einen Lunch zu erwischen oder in der Stadt ein paar Stunden einkaufen zu gehen. Wieder andere würden schon bald zu den Touren nach der Versammlung aufbrechen. Von denen, die nach Hause gingen, würden die einen in wohlgesicherte Verhältnisse zurückreisen und andere in Länder, in denen sie systematisch von der Regierung verfolgt werden oder wo die Wirtschaft nach Covid noch immer am Boden liegt. Wir gehen alle zusammen nach Hause? Nindyo packte den Augenblick für eine der besten Predigten, die ich seit langem gehört habe. Er erzählte die Geschichte von Rut, die mit ihrer Schwiegermutter nach Israel zieht, als eine Entscheidung für eine alle Grenzen sprengende Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, die eigentlich unmöglich ist. Rut hängt sich in der Geschichte an Naomi wie ein Mann seiner Frau anhangen wird. Die Parallele zu Genesis ist nicht zu überhören. Fast trotzig klingt es, wenn Rut sagt: «Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist auch mein Gott.» Ein Protest gegen die Gesetze Nehemias und Esras, die Israeliten auffordern, sich von ihren Frauen aus anderen Völkern zu scheiden. Und Rut wandert ein in ein Volk, das für sie keinen Raum bereithält. Nindyo benannte Trennendes von heute und brachte es ein in die Vision, dass wir letztlich alle zusammen in das Reich Gottes heimkehren würden. «We will all got home together» war ein Protest gegen die offensichtlich ungerechten Trennungen, die nicht zuletzt darin zum Ausdruck kam, dass wir an ganz verschiedene Orte heimkehrten. Aber es war ein hoffnungsvoller Protest, der Freude auf die Überwindung dieser Trennungen machte, weil sie sich in Heilsgeschichte Gottes einschreibt.
Text:
Jürg Bräker