Unter dem Motto «Gmeinschafte ächt läbe» fördert die Alttäufergemeinde Emmental bewusst verbindliche, ehrliche Beziehungen in der Gemeinde. Die Gemeindeleitung wagt dabei auch neue Gottesdienstformate wie den «Gottesdienst daheim».
«Gmeinschafte ächt läbe» das ist das Motto der Alttäufergemeinde Emmental. Und aufgepasst: Es heisst «Gemeinschaften» im Plural und nicht «Gemeinschaft» im Singular. Das Motto enthält damit eine zentrale Information darüber, wie sich die Gemeinde selbst verstehen will: Als eine grosse Gemeinschaft, die aus vielen kleinen Gemeinschaften besteht. «Die grosse Gemeinschaft braucht es. Sie wirkt horizonterweiternd, weil sie für viele unterschiedliche Menschen Platz bietet», sagt Nathalie Stucki. Sie war bei der Gemeinde bis vor kurzem als Pastorin angestellt und hat das Motto und dessen Umsetzung massgeblich mitentwickelt. «Die kleinen Gemeinschaften braucht es hingegen, weil dort eher tragende Beziehungen gelebt werden könnten.» Unter dem neuen Motto will das Leitungsteam der Alttäufergemeinde Emmental auch solche Gemeinschaften bewusst fördern.
Dabei sagt dieses auch etwas darüber aus, welche Art von «Gemeinschaft» ermöglicht werden soll: Gemeinschaft, in der man authentisch ist und ehrlich und nicht nur die Freuden, sondern auch die Sorgen des Lebens teilt und einander unterstützen kann. Sie begegne noch zu oft Menschen, die den Eindruck hätten, dass Letzteres in einer Kirche keinen Platz hätte, weil mit Gott ja immer alles gut sein muss, hält Nathalie fest. «Wer so denkt, getraut sich am Ende nicht zu sagen, wenn es mal schlecht geht.» Aber im Leben sei nun mal nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Die Gemeindeleitung wünsche sich, dass ihre Gemeinde eine Gemeinschaft sein dürfe, wo dieser Tatsache Rechnung getragen werde. «Deshalb heisst es ‘ächt läbe’», erklärt Nathalie.
Es kommt auf die Generation an
Entwickelt wurde das Motto von der Gemeindeleitung im Rahmen von Retraiten und Visions- und Strategiegesprächen. Im Frühling 2023 wurde es eingeführt. «Zuerst gab es eine Reihe von Anlässen und auch Gottesdiensten zum Thema», sagt Nathalie. So wurde die Gemeinde mit dem Motto selbst und dem Anliegen dahinter vertraut gemacht. Die Reaktionen seien unterschiedlich ausgefallen. «Einige fühlten sich abgeholt, andere fanden, dass sie bereits genügend echte Beziehungen leben würden.» In den Reaktionen hat Nathalie auch einen Unterschied zwischen den Generationen ausgemacht: Vielen älteren Menschen in der Gemeinde seien die Treffen in der grossen Gemeinschaft wichtig – insbesondere der Gottesdienst am Sonntagmorgen. «Sie freuen sich auf die Feier, die geistlichen Impulse, die kurzen Begegnungen», hält Nathalie fest. Dass nicht so viel Zeit für intensive Beziehungspflege bleibe, störe sie nicht, weil sie oft ausserhalb der formellen Gemeindestrukturen in tragende Gemeinschaften eingebunden seien. Anders sehe es bei den jüngeren Menschen aus. «Sie haben viel mehr Möglichkeiten, sich ausserhalb der Gemeinde geistliche Impulse zu holen, z.B. auf dem Internet. Dafür fehlt ihnen die tragende Gemeinschaft.» Genau das würden sie in der Gemeinde suchen und kämen beispielsweise am Sonntagmorgen nicht auf ihre Rechnung – gerade auch weil die Alttäufergemeinde Emmental eine der grossen Gemeinden ist. Mit dem neuen Motto will das Leitungsteam der Gemeinde dieses Bedürfnis der jüngeren Menschen ernst nehmen, ohne jenes der älteren Generation aus dem Blick zu verlieren.
In kleinen Gruppen zu Hause feiern
Besonders greifbar gemacht wurde das Motto mit einer Anpassung im Gottesdienstprogramm. So finden klassische Gottesdienste mit Gesang, eingebettet in kurze Wortbeiträge und einer Predigt seit einigen Monaten nur noch am ersten und dritten Sonntag im Monat statt. Der zweite Sonntag ist reserviert für besondere Formate: Familien-Gottesdienste, Outdoor-Gottesdienste, Zeugnisgottesdienste oder Anbetungs- und Lobpreisgottesdienste beispielsweise. Und für den vierten Sonntag wurde etwas ganz Neues eingeführt, der sogenannte «Gottesdienst daheim». Dort sollen besonders engere Gemeinschaft und echte Gespräche gestärkt und gefördert werden. Das Format funktioniert so, dass alle Gemeindemitglieder, die Lust haben, einen kleinen Gottesdienst organisieren und anbieten, beispielsweise bei sich zu Hause. Dabei sind sie in der Gestaltung sehr frei: «Vom Brunch über einen Nachmittag mit Gesellschaftsspielen oder eine Wanderung bis zu einem klassischeren Format mit Kurzpredigt, Gebet und gemeinsamem Singen ist alles möglich», erklärt Nathalie. Einziges Anliegen der Gemeindeleitung: Mindestens ein geistliches Element soll Platz finden. Mit genügend Vorlaufzeit wird die Liste mit allen Gastgeber:innen jeweils veröffentlicht, so dass alle auswählen können, wo sie den Sonntag verbringen wollen.
Positives behalten, Ausführung optimieren
Bis jetzt haben sieben Gottesdienste in diesem Format stattgefunden – und das Fazit ist etwas durchwachsen. Warum? «Eine Herausforderung ist, dass das Format für Familien nur bedingt attraktiv ist», sagt Nathalie. Oft sei zu wenig klar, welche Angebote sich gut für Familien eigneten und es habe bisher auch kaum welche gegeben, die auch wirklich für Familien ausgelegt gewesen seien. «Und bei uns in der Gemeinde haben wir sehr viele Familien.» Deshalb habe ein grosser Teil der Gemeinde bis jetzt kaum am Format teilgenommen, sondern nur etwa ein Drittel der Personen, die jeweils im klassischen Gottesdienst am Sonntagmorgen anwesend wären. Eine weitere Herausforderung war, dass viele Gemeindemitglieder gerne einfach jeden Sonntag einen Gottesdienst mit der gewohnten Liturgie feiern. Es gab dann auch Mitglieder, die solche Gottesdienste im Rahmen der «Gottesdienste daheim» bei sich zu Hause angeboten hatten. Aber irgendwann wurde es diesen Personen zu aufwändig. Unter dem Strich findet Nathalie aber trotzdem: «Im Kern hat das Format funktioniert. Denn es hat verbindliche kleine Gemeinschaften innerhalb der Gemeinde gefördert», findet Nathalie. Die Gemeindeleitung werde nun das Positive behalten, aber die Ausführung optimieren. Vielleicht werde es vorerst einfach weniger dieser Gottesdienste geben.
Motto zeigt Wirkung
Und auch wenn sich die Gemeinde voraussichtlich wieder mehr in ihrem Gemeindehaus in der grossen Gemeinschaft trifft, eins will die Gemeindeleitung beibehalten: Die Abwechslung bei den Formaten. Woran auch festgehalten wird, ist am Gemeindewochenende. Ein solches fand im letzten Herbst nach vielen Jahren Unterbruch wieder einmal statt. Im Fokus: natürlich Gemeinschaft. Statt lange Vorträge gab es gemeinsame Aktivitäten und viel frei gestaltbare Zeit. «Das hat allen Teilnehmenden sehr gut getan und es gab viele positive Rückmeldungen», sagt Nathalie. Sie findet auch ganz generell, dass das Motto immer mehr Früchte trägt: «In der Gemeindeleitung hatten wir zuletzt den Eindruck, dass allgemein in der Gemeinde ein guter Austausch stattfindet und dieser ehrlicher und herzlicher werden durfte.» Auch wenn nicht alles funktioniert habe, wünscht sie sich gerade deshalb, dass die Gemeinde am Thema dranbleibt und immer wieder Neues probiert. Sie selbst wird bei diesen Diskussionen nicht mehr dabei sein. Denn sie hat ihre Arbeit als Pastorin an den Nagel gehängt und sich im Februar einer neuen Herausforderung zugewandt.
Text:
Simon Rindlisbacher