Insgesamt 17 Nachhaltigkeitszielen haben die Mitgliedstaaten der UNO 2015 verabschiedet, um sich gemeinsam für eine bessere Welt zu engagieren. Was hat die Kirche mit diesen Zielen zu tun? Dieser Frage widmete sich Lukas Amstutz, Co-Präsident der Konferenz der Mennoniten der Schweiz, im März 2022 in einem Vortrag an der StopArmut-Konferenz in Aarau. Hier folgt der Vortrag in einer gekürzten Fassung.
Artikel aus dem
Bienenberg Magazin, Sommer/Herbst 2022
In der Einleitung seiner Ethik der Hoffnung schreibt Jürgen Moltmann: «Was wir für möglich halten, nehmen wir in Angriff» (Moltmann 2010:20). Manche würden hier warnend einwerfen, dass sich der Mensch damit in seinen Möglichkeiten komplett überschätzt. Ja mehr noch: Es droht hier der Hochmut, der als Ursprungssünde den Menschen dazu verleitet, so sein zu wollen wie Gott. Das mag eine Gefahr sein. Aber Moltmann hat meines Erachtens Recht, wenn er schreibt: «Die Versuchung heute besteht weniger darin, dass Menschen Gott spielen wollen, als vielmehr darin, dass sie sich nicht mehr das Menschliche zutrauen, das Gott von ihnen erwartet. Es ist die Angst des Kleinglaubens, die zur Kapitulation vor der Macht des Bösen führt» (Moltmann 2003:106– 107). Es gehört für mich daher zu den Aufgaben der Kirchen, die Hoffnung zu bezeugen und wachzuhalten, die uns in Jesus Christus begegnet. Denn in der Jesus-Geschichte entdecken wir das Anliegen Gottes, dass das Leben der Menschen und der gesamten Schöpfung gedeihen kann.
Eine Vision des erfüllten Lebens
Miroslav Volf und Matthew Croasmun haben 2019 ein Manifest zur Erneuerung der Theologie veröffentlicht. In der deutschen Übersetzung trägt es den Titel «Für das Leben der Welt.» Die Autoren gehen davon aus, dass die verschiedenen Religionen und Philosophien sich mit der Frage beschäftigen, wie ein gutes oder erfülltes Leben aussieht. In ihrer Reflexion beschreiben sie drei Dimensionen, die ein erfülltes Leben strukturieren und ausmachen:
- Das Leben, das gut verläuft (Dimension der Umstände): Diese Dimension bezieht sich auf die äusseren Umstände des Lebens. Entscheidend für ein erfülltes Leben sind hier natürliche Lebensumstände (Fruchtbarkeit oder intakte Lebensressourcen), soziale Umstände (gerechte Gesellschaftsordnung oder ein guter Ruf) und persönliche Umstände (Gesundheit, hohe Lebenswartung).
- Das Leben, das richtig geführt wird (Handlungsdimension): Diese Dimension bezieht sich auf die richtige Lebensführung. Ein erfülltes Leben reicht hier von den richtigen Gedanken und Handlungen bis zu den rechten Gewohnheiten und Tugenden.
- Das Leben, das sich richtig anfühlt (affektive Dimension): Mit dieser Dimension richtet sich der Blick auf die Frage nach dem «Glück» (Zufriedenheit, Freude) und der Empathie.
Mit diesen drei Dimension können wir nun fragen: Wie sieht ein Leben aus, das gut verläuft, richtig geführt wird und sich richtig anfühlt?
Die Schöpfung als Gottes Wohnung
Volf und Croasmun formulieren aus dem biblischen Zeugnis die folgende Lebensvision: «[D]as erfüllte Leben der Menschen, ja der ganzen Schöpfung [ist] ihre Existenz als ‘Wohnung Gottes’ – die Art von Existenz, die darauf beruht, dass die Schöpfung zu sich selbst findet, indem sie eine Wohnstatt Gottes wird» (Volf & Croasmun 2019:72). Die Schöpfung als Gottes Wohnung: Diese Vision ist von den zwei grossen Bildern geprägt, die am Anfang und am Ende der biblischen Gesamt-Story stehen.
Die biblische Erzählung beginnt in einem fruchtbaren Garten. Gott hat diesen Garten ins Leben gerufen und sein Gesamtwerk mit dem Prädikat «sehr gut» beurteilt. Dazu gehört auch, dass Gott der Menschheit zumutet, die Welt in seinem Sinne zu verwalten und damit den geschaffenen Lebensraum zu erhalten. Diese Aufgabe soll und kann der Mensch nicht unabhängig von Gott erfüllen. Die täglichen Besuche Gottes im Garten zeigen, dass Gott als Schöpfer und Erhalter des Lebens mit seiner Schöpfung zusammenleben will.
Am Ende der biblischen Erzählung finden wir dann das Bild einer blühenden Stadt. Auch dieser gesunde und sichere Lebensraum ermöglicht ein erfülltes Leben für alle. Wie am Anfang existiert dieser Ort aber nicht ohne oder neben Gott. Im Gegenteil – auch hier will Gott unter den Menschen und der gesamten Schöpfung wohnen. Um es mit den Worten von Volf und Croasmun zu sagen: «Gottes Ziel für die Welt ist die Welt – allerdings nicht als säkulare Welt ohne Gott, sondern die Welt als Haus, in dem der ‘Eigentümer’ mit wohnt und nicht irgendwo anders ist und nur die Miete kassiert» (Volf & Croasmun 2019:79).
Biblisch wird für diese enge Verbindung zwischen Gott und der Welt auch der Begriff «Reich Gottes» verwendet. Da verbinden sich Himmel und Erde – im Reich Gottes wohnt Gott in der Welt und die Welt ist Gottes Wohnung. Von diesem Reich Gottes her versucht das Manifest nun die Vision eines erfüllten Lebens inhaltlich zu füllen und greift dazu auf den von Paulus geschriebenen Römerbrief zurück: «Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist» (Röm 14,17, ZÜ). Damit lassen sich nun die erwähnten drei Lebensdimension inhaltlich füllen.
- Das Leben, das richtig geführt wird, ist gerecht. Gerechtigkeit bedeutet in der paulinischen Theologie die Treue zum Bund. Inhalt dieses Bundes ist das Liebesgebot. Richtig zu handeln, bedeutet daher in einem erfüllten Leben zu lieben: Gott, den Nächsten, sich selbst, die Schöpfung und sogar den Feind.
- Das Leben, das gut verläuft, lebt für den Frieden. Friede ist die Antwort auf die Frage, was für Umstände ein erfülltes Leben ermöglichen. Friede ist hier vor allem als Beziehungsbegriff zu verstehen. In der biblischen Erzählung wird für diesen Frieden gerne das Wort «Schalom» verwendet, mit dem ein umfassendes und gerechtes Heilsein der gesamten Schöpfung gemeint ist.
- Das Leben, das sich richtig anfühlt, ist erfüllt von Freude. Wenn das Handeln von Gerechtigkeit geprägt ist und die Lebensumstände von Frieden geprägt sind, kann sich in einem erfüllten Leben das Gefühl der Freude einstellen. Anlass zu dieser Freude ist einerseits die erfahrbare Gegenwart Gottes, der inmitten seiner Schöpfung wohnt. Andererseits ist da die Freude an den Mitmenschen, mit denen ein gerechtes und friedliches Zusammenleben in einer intakten Schöpfung möglich wird.
Wir können mit Volf & Crousman (:186) die Vision eines erfüllten Lebens mit Blick auf Römer 14,17 so zusammenfassen: «Was bedeutet es, wenn das Leben richtig geführt wird? Es ist gerecht. Was bedeutet es, wenn das Leben gut verläuft? Es ist friedlich. Und was bedeutet es, wenn das Leben sich richtig anfühlt? Es ist voller Freude.»
Ein spannungsvolles Leben
Diese biblische Vision eines erfüllten Lebens weckt Sehnsucht und Hoffnung; die Hoffnung, dass diese Welt noch anders, gerechter und friedlicher werden kann. Gleichzeitig erleben wir inmitten einer guten Schöpfung, die in Jesus Christus den Anbruch von Gottes Reich erfahren hat …
- … wie Menschen physisch oder psychisch verleugnet und verletzt werden. Wie ihr freier Wille, ihre Integrität, ihre Würde zerstört werden und damit die Gott-Ebenbildlichkeit mit Füssen getreten wird.
- … wie menschliche Gemeinschaften verleugnet, verletzt oder zerstört werden, die Gott geschaffen hat, damit sich darin gerechte Beziehungen entfalten können.
- … wie die Schöpfung ausgebeutet und zerstört wird, die uns als Gabe Gottes und kostbares Geschenk anvertraut worden ist.
Es handelt sich hierbei um verschiedene Formen von Gewalt, in denen Gottes Wille und seine Vision eines erfüllten Lebens verneint und verhindert wird. Als Christinnen und Christen leben wir mit diesen Spannungen, aber wir müssen und dürfen uns mit ihnen nicht gleichgültig abfinden.
Aufruf zum gerechten Frieden
Der Ökumenische Rat der Kirchen hat im Jahr 2013 einen Aufruf zum gerechten Frieden veröffentlicht, der wie folgt definiert wird: Gerechter Friede wird verstanden als «kollektiver und dynamischer, doch zugleich fest verankerter Prozess […], der darauf ausgerichtet ist, dass Menschen frei von Angst und Not leben können, dass sie Feindschaft, Diskriminierung und Unterdrückung überwinden und die Voraussetzungen schaffen können für gerechte Beziehungen, die den Erfahrungen der am stärksten Gefährdeten Vorrang einräumen und die Integrität der Schöpfung achten» (ÖRK 2011). Verankert ist dieser «Gerechte Friede» in der biblischen Überzeugung, dass es keine Gerechtigkeit ohne Frieden und keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben kann. Wo Friede und Gerechtigkeit sich küssen (Ps 85,11), kann sich die Vision eines erfüllten Lebens für alle – Gottes Schalom – ausbreiten.
Gerechter Friede und die Nachhaltigkeitsziele der UNO
Die Suche und das Engagement für den «Gerechten Frieden» verbindet die Kirche mit den Nachhaltigkeitszielen der UNO. Denn «die Verantwortung der Kirche in und für die Gesellschaft kommt gerade darin zum Ausdruck, dass sie eine Gemeinschaft des gerechten Friedens exemplarisch lebt, die dem Wort glaubt, dass das Reich Gottes ‹mitten unter euch› ist (vgl. Lk 17,21), inmitten aller Ambivalenzen dieser Welt» (Enns 2019:191). Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO bilden kein neues Evangelium, aber sie konkretisieren die Vision eines erfüllten Lebens, das gerecht, friedlich und voller Freude gelebt werden kann. Und zwar für alle Menschen. Aus einer christlichen Perspektive ist ein solches Engagement vom Glauben getragen, dass mit Jesus Christus das Reich Gottes inmitten dieser Welt angebrochen ist. Wunderbar formuliert hat dies wiederum Jürgen Moltmann: «Glauben heisst, in der Gegenwart des auferstandenen Christus zu leben und sich nach dem kommenden Reich Gottes auszustrecken. […] Wir warten und eilen, wir hoffen und dulden, wir beten und wachen, wir sind geduldig und neugierig zugleich. Das macht das christliche Leben spannend und lebendig. Der Glaube: ‹Eine andere Welt ist möglich›, macht Christen nachhaltig zukunftsfähig» (Moltmann 2003:101). Wer mit dieser christlichen Hoffnung lebt, wird in den Nachhaltigkeitszielen sicher auch Gottes globale Ziele entdecken.
Text:
Lukas Amstutz