Der Roman «Die Furgge» erzählt die Geschichte einer Emmentaler Bauerntochter, die sich der Täuferbewegung anschliesst. Nach seiner Veröffentlichung hat er ein breites Echo ausgelöst und die Wahrnehmung des Täufertums massgeblich geprägt. Die Autorin Katharina Zimmermann ist dieses Jahr verstorben.
Der Hohgant ist ein Berg im hinteren Emmental, ein auffälliges Massiv mit verschiedenen Gipfeln mitten in einem grossen Naturschutzgebiet. Früher hiess der Hohgant «Furgge» und das ist auch der Titel eines Romans über die Verfolgung der Täufer in der Region Bern. Verfasst wurde er in den 1980er Jahren von Katharina Zimmermann. Er spielt an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert und erzählt die Geschichte von Madleni Schilt einer Bauerntochter aus Schangnau, die sich den Täufern anschliesst. Der Hohgant oder eben die Furgge ist im Roman Symbol für Schutz und Heimat.
Täuferbewegung gibt Halt und Kraft
Die Geschichte beginnt unbeschwert. Die Leser:innen lernen zuerst Madleni Schilt, die Familie und das Leben der begüterten Bauerntochter kennen. Sie heiratet und übernimmt mit ihrem Ehemann Christen Hirschi den Hof dessen Eltern. Dann ziehen langsam Gewitterwolken auf: Ihr erstes Kind kommt tot zur Welt. Nachdem auch das zweite Kind die Geburt nicht überlebt, fällt Madleni in eine Depression. Denn die bernische reformierte Kirche will tote, ungetaufte Kinder nicht begraben und ihnen keinen Seelenfrieden gönnen. Die Hauptfigur rettet sich aus ihrer Verzweiflung, in dem sie sich von der reformierten Kirche abkehrt und sich den Täufer:innen zuwendet. Katharina Zimmerann stellt dies als Wechsel dar hin zu einer Bewegung, die an einen barmherzigen Gott glaubt, der alle Menschen liebt und die ungetauft gestorbenen Kinder zu sich holt. Ihr Bekenntnis zur Täuferbewegung bringt ihr Halt und Kraft, verlangt aber einen hohen Preis: Sie verliert ihren Hof, ihr Land, ihre Familie und schliesslich das Leben.
Rahmenerzählung mit Gegenwartsbezug
Eingebettet ist die Geschichte von Madleni Schilt und ihrer Familie in eine Rahmenerzählung, in der Anna Bloch-von Siebenthal die Hauptrolle spielt. Die Cellistin aus Zürich gönnt sich in Schangnau am Fuss des Hohgant eine Auszeit. Dort stösst sie auf ein Manuskript, in der sie die Geschichte von Madleni entdeckt. Mit zunehmender Faszination macht sie sich in der Umgebung auf die Suche nach Spuren der Täuferbewegung. Dabei stellt sie immer wieder Bezüge her zu Themen ihrer Gegenwart. In der Auseinandersetzung mit der Täufergeschichte denkt sie beispielsweise über Militärdienstverweigerung, den Umgang mit Asylsuchenden, oder Zivilcourage nach.
Acht Jahre Forschung als Grundlage
Dieser Gegenwartsbezug ist etwas, das der Täuferhistoriker Hanspeter Jecker dem Roman hoch anrechnet: «Das Buch vermag Geschichte fruchtbar zu machen bis in die Gegenwart hinein. Das macht es aus meiner Sicht besonders wertvoll.» Katharina Zimmermann, die im Mai dieses Jahres gestorben ist, hat für den Roman rund acht Jahre lang geforscht. Er ist zwar Fiktion, aber nahe an der Realität, wie Hanspeter Jecker bestätigt: «Der Roman hält sich weitestgehend an die historisch bekannten Tatsachen», sagt er. Die Autorin habe die Schangnauer Kirchenbücher und Chorgerichtsprotokolle konsultiert und daraus geschöpft. Zudem habe sie Ernst Müllers Standardwerk zum Berner Täufertum verwendet. «Dabei ist es ihr ausgezeichnet gelungen, hinter den trockenen und oft wenig aussagekräftigen Verhörprotokollen und Gerichtsakten menschliche Schicksale sichtbar zu machen.» Als einzige Kritik führt Hanspeter Jecker an, dass die Täuferbewegung womöglich etwas zu positiv dargestellt worden sei.
Wahrnehmung des Täufertums massgeblich beeinflusst
«Die Furgge» erschien 1989 und fand ein breites Echo. Zusammen mit Grossanlässen wie dem «Täuferjahr 2007» im Emmental trug der Roman viel dazu bei, die leidvolle Geschichte der Täuferbewegung in der Schweiz aufzuarbeiten. Gemäss Hanspeter Jecker hatte er mit seiner positiven Schilderung auch einen wichtigen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung der Bewegung: «Zum einen zeigte er, DASS es dieses Täufertum überhaupt gab. Zum anderen macht er deutlich, dass es eine eigenständige Ausformung der Reformation war und der Berner Staat ihr die Chance nahm, sich zu entfalten.» Der Roman spielte auch eine Rolle bei der offiziellen Versöhnung zwischen der Konferenz der Mennoniten der Schweiz und dem Kanton Bern. 2017 las Katharina Zimmermann im Rahmen der Nacht des Glaubens im Berner Rathaus aus «Die Furgge» vor. In seiner Ansprache vor der Lesung hielt der Berner Regierungsrat Christoph Neuhaus fest: «Wenn uns nachher Katharina Zimmermann aus ihrem Buch ‹Die Furgge› vorliest, werden wir an ein Stück dunkelster Geschichte im Verhältnis von Kirche und Staat, von Obrigkeit und Untertanen, von Regierung und Regierten erinnert.» Schliesslich bat er die Täufer:innen um Verzeihung für all das, was ihnen im Kanton Bern zu Leide getan wurde. Später sprachen die Mennoniten im Rahmen einer gemeinsamen Feier der Berner Kantonsregierung Vergebung aus.
Roman macht Geschichte erlebbar
Eine, die den Roman gleich nach seiner Veröffentlichung gelesen hat, ist Nelly Gerber. Sie ist Mitglied der Mennonitengemeinde Sonnenberg, wo sie bis vor kurzem Älteste war. «‹Die Furgge› ist ein Buch, das einem die Geschichte erleben lässt», sagt sie. Für die Archivkommission der KMS macht sie regelmässige Führungen durch das Archiv der KMS auf dem Jeanguisboden. Dort hat sie als Einstieg auch schon aus dem Roman von Katharina Zimmermann vorgelesen. «Zum Beispiel die Stelle, wo Madlenis Töchter erzählen, dass sie in der Unterweisung Täufer verraten sollten, die sie kennen.» Das lasse alle immer wieder erschaudern, auch sie selbst. Andere Stellen hat Nelly Gerber als Gedankenanstösse in der Unterweisung verwendet. «Besonders stark finde ich am Roman, dass er aufzeigt, dass das Evangelium Menschen verändern kann», sagt sie. «Katharina Zimmermann beschreibt schön, wie sich im Haushalt von Madleni vieles positiv verändert, als die Gute Nachricht der Liebe Einzug hält.»
Faszinierende und befreiende Bewegung
Der Roman hat bei Nelly Gerber selbst Spuren hinterlassen: «Ich habe mich wegen dem Buch zum ersten Mal intensiv mit der Geschichte der Täufer befasst.» Und sie sei fasziniert und beeindruckt gewesen von der Bewegung und deren Geschichte. «Wie Madleni im Roman erlebten viele Frauen die Täuferbewegung als Befreiung. Sie schlossen sich ihr an und verabschiedeten sich damit von den gängigen hierarchischen und patriarchalen Strukturen», führt sie aus. Als Nelly Gerber den Roman zum ersten Mal gelesen hat, war sie gerade in ihrer Ausbildung zur Katechetin in der reformierten Kirche. Für sie war damals eine Option, von den Mennoniten in die reformierte Kirche zu wechseln. «Dass ich letztlich doch Mennonitin blieb, hatte wohl auch mit dem Buch ‹Die Furgge› zu tun», stellt sie rückblickend fest.
Text:
Simon Rindlisbacher