Innerhalb der weltweiten täuferisch-mennonitischen Bewegung gibt es immer mehr Kirchen, die von der pfingstlich-charismatisch Bewegung geprägt sind. Und sie wachsen schnell. Das bringt Herausforderungen mit sich, aber vor allem auch Chancen.
Artikel aus dem
Courier, April 2022
«Die Pfingstbewegung ist die am schnellsten wachsende Ausdrucksform des Christentums in der Welt. Das geht auch an den täuferisch-mennonitischen Kirchen nicht spurlos vorbei.» Zu diesem Schluss kommt das Global Anabaptist Project, eine umfassende dreijährige Umfrage unter 24 Mitgliedskonferenzen der Mennonitischen Weltkonferenz.
Heute verbinden viele täuferisch-mennonitische Kirchen eine christuszentrierte Theologie und die Betonung der Friedensarbeit mit einem spontanen, vom Geist geleiteten Ansatz, der oft mit der Pfingstbewegung und anderen charismatischen Bewegungen in Verbindung gebracht wird. Sie praktizieren eine Ausdrucksform des Glaubens, die César García, Generalsekretär der Mennonitischen Weltkonferenz, «mennocostal» nennt, eine Kombination von «mennonite» und «pentecostal», den englischen Wörtern für «mennonitisch» und «pfingstlich».
Die Kirchen mit dieser Prägung wachsen schnell. Wenn dieses Wachstum auf Kosten der eigenen kirchlichen Identität zu gehen scheint, kann diese Dynamik und Lebhaftigkeit auch Unbehagen hervorrufen.
Was bedeutet das Wachstum der Pfingstbewegung für die Mennonit:innen?
«Die Pfingstbewegung ist in unserem Jahrhundert die engste Parallele zu dem, was das Täufertum im 16. Jahrhundert war», hielt der kanadische Täuferhistoriker C. Arnold Snyder schon 1995 in seinem Buch «Anabaptist History and Theology» fest.
Das Täufertum wurde durch Wellen der Erneuerung geformt und immer wieder umgestaltet. Da waren die leidenschaftlichen und risikofreudigen Wieder-Täufer:innen des 16. Jahrhunderts sowie pietistische Erweckungen unter Mennonit:innen in der heutigen Ukraine. Und da gab es den Einfluss der Ostafrika-Erweckung rund um die Kanisa la Mennonite Tanzania und der Kenya Mennonite Church in den 1930er Jahre und die Entstehung der Jemaat Kristen Indonesia (JKI) aus einer Gebetsbewegung von jungen Menschen heraus. Schliesslich passt zu diesen Beispielen auch das Aufblühen trotz politischer Verfolgung der Meserete Kristos Church in Äthiopien in den 1980er Jahren.
«Die Pfingstbewegungen und die charismatischen Erweckungsbewegungen machen heute ähnliche Erfahrungen wie wir seinerzeit als Täufer: Sie entdecken gemeinsam die Bibel neu, werden inspiriert, erleben Freiheit und Freude», sagt Bernhard Ott, Theologe und ehemaliger Leiter des Bildungszentrums Bienenberg. Er ergänzt: «Aber Offenheit für das, was Gott tut, ist auch mit Unsicherheit und einem Verlust an Kontrolle verbunden.»
Der Prozess der Institutionalisierung wirkt jeweils gegenläufig zur Offenheit und Spontaneität einer Bewegung. In den Wellen der Erneuerung des Täufertums entwickelten sich einerseits eine täuferische Theologie und Lehre sowie die kritische Reflexion; andererseits kam dadurch aber auch etwas von der Offenheit der Anfänge abhanden. Oder mit den Worten von Pedro Calix, einem mennonitischen Pastor aus Honduras: «Die täuferische Bewegung begann irgendwann den Enthusiasmus zu verlieren, der sie am Anfang begleitet hatte.»
Welche Chancen bietet die aufblühende Pfingstbewegung den Mennonit:innen?
«Es ist eine grosse Chance, die Idee einer Rückkehr zu unseren charismatischen Wurzeln zu bedenken und uns für das zu öffnen, was der Heilige Geist in unseren Glaubensgemeinschaften tun will, ohne dabei unsere täuferische Identität zu verlieren», sagt Pedro Calix.
Neal Blough stellt fest, dass der pfingstliche Gottesdienststil die Menschen im globalen Süden mehr anspricht als die rationalen Formen der schweizerischen oder russischen Strömungen des Täufertums. Der emeritierte Professor für Kirchengeschichte an der Faculté de Théologie Protestante, Université de Strasbourg feiert den Gottesdienst in einer städtischen Mennonitengemeinde in Europa, die von Mitgliedern aus dem Rest der Welt beeinflusst wird. «Wie viel ist theologisch und wie viel ist kulturell bedingt?», fragt er sich. «Pfingstliche und charismatische Gottesdienste sind leiblicher, körperlicher, ausdrucksvoller, lebendiger und freudiger, und das entspricht dem, was ich von Menschen aus dem globalen Süden kenne.»
Dass Gemeinden aus der täuferisch-mennonitischen Kirchenverbund hin zur schnell wachsenden Pfingstbewegung abwandern, ergriffen die Verantwortlichen der Mennoniten Brüdergemeinden in Brasilien als Chance. «Wir können in der Bibel sehen, dass die frühe Kirche vom Heiligen Geist geleitet wurde. Wir schätzen das Wort Gottes. Aber wir wussten nicht, was es bedeutet, vom Heiligen Geist geleitet zu werden», sagt Rodrigo Justino, Pastor einer Mennoniten Brüdergemeinde in Brasilien, der jetzt in Kanada Theologie studiert. Da die täuferisch-mennonitische und die pfingstlich-charismatische Bewegung einander in einer offenen, lernenden Haltung begegnet seien, seien die Brüdergemeinden in Brasilien nun zwar nicht einfach pfingstlich geworden. «Aber wir sind auch nicht nur täuferisch. Wir sind eine Mischung aus beidem.»
«Mitglieder der Pfingstbewegung bringen Pathos mit. Dabei geht es nicht einfach um billige Emotionen, sondern um Zuneigung», sagt Bernhard Ott. «Sie bringen eine spirituelle Dimension zurück: Es ist die Kraft Gottes, die Kraft des Geistes, die uns verwandelt. Wir tun dies nicht einfach selbst. Von dieser Haltung können wir viel lernen.» Mennonit:innen sind bekannt für ihre theologische Ausrichtung auf die richtige Lebensweise, auf die Orthopraxie. Dazu sagt Bernhard Ott: «Ohne die Kraft des Heiligen Geistes kann die Ethik zu einer Last werden. Wir brauchen geistliche Kraft für die täuferische Vision.» Pfingstliche Perspektiven könnten Mennonit:innen an die eigene Theologie der Herrschaft Gottes erinnern, die davon ausgehe, dass das Reich Gottes bereits angebrochen, wenn auch noch nicht vollendet sei. «Sie können uns daran erinnern, dass Gottes Macht jetzt anbricht, nicht erst in der Zukunft.» Die Kirche sei in dem Ausmass ein Zeichen des Reich Gottes, in dem sie ein Ort des gesellschaftlichen Wandels und ein Förderer von Frieden und Gerechtigkeit sei.
Was sind die Herausforderungen?
Die täuferisch-mennonitischen Kirchen in Lateinamerika sind stark von der Pfingstbewegung beeinflusst. Zu den negativen Auswirkungen dieses Einflusses gehört laut Pedro Calix, «dass in der Liturgie oft biblische Texte aus dem Zusammenhang gerissen werden, was man an einigen Liedern sehen kann, die den Schwerpunkt auf geistliche Kriegsführung oder das Wohlstandsevangelium legen.»
Rodrigo Justino merkt an, dass sich die Mitglieder der Pfingstbewegung in Brasilien zwar nicht auf Autoritätskriterien konzentrieren würden, sondern auf die Gaben. «Sie können deshalb nicht leugnen, dass die Frau pastorale Gaben hat: eine Prophetin, eine Evangelistin.» Trotzdem sei die «oberste» Leitung der Kirchen immer noch überwiegend männlich. Kritisch sieht er auch, dass Pfingstkirchen sich oft auf die Spiritualität des Gründers stützen würden; es würden Dynastien entstehen. «Daher kann das Festhalten an der Macht ein Problem sein», sagt Rodrigo Justino.
In Indonesien hat die Leidenschaft des JKI-Gründers für einen im Gebet verankerten, vom Geist geleiteten Gottesdienst die Bewegung durchdrungen. «Seine mennonitischen Wurzeln sind weniger offensichtlich», sagt Rony Kristanto, ein Pastor in der «mennocostal» JKI-Synode. Dieses Problem der fehlenden theologischen Verankerung kann sich verstärken, wenn Kirchen schnell wachsen. «Pfingstbewegungen können so gross wie der Ozean, aber so seicht wie eine Pfütze werden», sagt Rodrigo Justino. «Sie können zur Beute anderer Bewegungen werden. Wir Mennonit:innen können in theologischer Hinsicht helfen. Die Mitglieder der Pfingstbewegung können uns helfen, die Stimme des Geistes zu erkennen und zu verstehen, was es bedeutet, aus dem Glauben zu leben: Um etwas zu starten, braucht man kein Geld, keine Struktur; man braucht nur Glauben und Mut zum Predigen. Alles andere wird der Herr unter uns tun.» Das sei eine enorm wichtige Lektion.
Die Pfingstbewegung sei in gewisser Weise immer noch geprägt von der Neuheit, den Zeichen und Wundern der ersten Stunden, sagt Neal Blough. «Jede protestantische Bewegung hat einen zyklischen Prozess durchlaufen. Die Mitglieder der neuen Bewegungen müssen theologisch denken, sich bewusst machen, dass sie nicht die ersten Christen sind.» Zudem sei es wichtig, dass sie beobachteten, wie andere den Wandel zu mehr Struktur bewältigt haben und von ihnen lernen würden.
Welche Gaben könnten die Mennonit:innen – jetzt eine gereifte Bewegung – und die noch junge und sich entwickelnde Pfingstbewegung füreinander bereithalten?
«Die Gaben des Dienstes, der Solidarität, der Jüngerschaft und der Lehre», zählt Pedro Calix auf. Rony Kristanto sagt: «Wir alle wollen die Herrschaft Gottes in diese Welt bringen. Mitglieder der Pfingstbewegung versuchen, das Heil durch Heilung, Erlösung und physischen Segen zu materialisieren und offenkundig zu machen. Etwas, das hier und jetzt geschieht. Dieses Zeugnis der Erlösung, diese gute Nachricht, ist nicht im Himmel, in der Zukunft, sondern jetzt.» Ein Problem in Indonesien sei, dass die Menschen keine soziale Absicherung hätten, deshalb sei körperliche Heilung für sie sehr wichtig. Die ersten Mitglieder des JKI folgten diesem Beispiel. «Alles begann mit Gebeten. Jedes Mal, bevor sie in eine Region gingen, beteten sie für diese», sagt Rony Kristanto. Soziales Engagement könne nicht von der charismatischen Erfahrung des Heiligen Geistes getrennt werden. Mennonit:innen würden auch mit den Armen und Unterdrückten arbeiten. «Aber die Mitglieder der Pfingstbewegung dienen nicht nur als Sozialarbeiter, sondern aufgrund von Visionen, Gebet und geistlicher Kriegsführung.»
«Wir müssen gegenseitig unsere Lieder singen, wir müssen einander singen und uns nicht nur in eine der Strömung ziehen lassen», sagt Neal Blough und bezieht sich dabei auf die Arbeit von Janie Blough, die Lobpreis studiert und lehrt. Seiner Meinung nach, hält die Lebendigkeit des Pfingstgottesdienstes für Mennonit:innen Lektionen in Lebenskraft bereit, dafür biete die täuferische Tradition die Einsicht, dass die Bildung von Jünger:innen ein tiefgründiger Prozess ist, mehr als emotionale Musik und eine Predigt. «Mennonit:innen haben in Bezug auf Demut und Gemeinschaft etwas zu bieten», sagt Neal Blough. Zudem seien Jüngerschaft und Ethik hilfreiche Korrektive für eine Bewegung, die dazu neige, zu individualistisch zu sein. Er beobachtet ein zunehmendes ökumenisches Engagement von Mitgliedern der Pfingstbewegung, die die Erfahrungen anderer Kirchen suchen, um sich als reifende Bewegung besser zu strukturieren.
Bernhard Ott zufolge können die Mennonit:innen für die Mitglieder der Pfingstbewegung ein Korrektiv sein, indem sie nicht nur auf Wunder und Macht schauen, sondern auch auf die Ethik – wie man lebt und Friedenszeugnis ist. Er sagt: «Wort und Tat waren schon immer Teil der täuferisch-mennonitischen Theologie und Praxis. Die Pfingstbewegung bringt die Erfahrung der Kraft Gottes ein. Das ist eine gute Herausforderung. Mennonit:innen können mit Mitgliedern der Pfingstbewegung sprechen, wenn es zu einseitig wird.»
Der Theologe Claude Baecher beobachtet in seiner Gegend in Frankreich ein Interesse an der Geschichte und Theologie der Mennonit:innen. «Diesen pfingstlerischen Kirchen nahe zu sein, für sie da zu sein, ja sogar geschwisterlich verbunden, scheint mir ebenso wichtig wie unser Engagement in ökumenischen Kreisen.» Dies müsse mit einem starken, auf Christus ausgerichteten biblischen Ansatz geschehen. «Man muss ein zu schnelles Urteil vermeiden und mit pädagogischen Werkzeugen präsent sein: täuferische Geschichte, Exegese, Ethik, praktische Theologie, friedenszentrierte Theologie, Dialog. Und mit Demut», sagt er.
Gemeinsam Demut zu lernen war der Ausweg aus einer drohenden Kirchenspaltung bei den Mennoniten Brüdergemeinden in Brasilien. Die älteren, konservativen Gemeinden und die neuen Gemeinden, die einem vom Geist geleiteten Weg folgen, wollten sich voneinander trennen. «Wir kämpften mit unserem Stolz und unserem Groll über den Austritt von Mitgliedern. Wir haben Chancen ergriffen und uns vor Bedrohungen geschützt», sagt Rodrigo Justino rückblickend. «Es geht darum, was Gott tut. Es geht um seine Gnade», ergänzt er. Wir sollten Jesus in Demut nachfolgen. «Wenn du dich dafür entscheidest, dann hast du Schönheit. Etwas anderes als ‹du und ich› oder ‹wir und sie›, es entsteht ein ‹Wir›. ‹Wir› arbeiten zusammen.»
Text:
Karla Braun, Leitende Redaktorin des Courier
Beitragsbild:
Henk Stenvers, Costa Rica 2019