An Fronleichnam 2022 sind rund vierzig Personen mit einer grossen Bibel in Basel von der St. Alban-Kirche zum Bischofshof spaziert. Sie erintnerten damit an eine provokative Aktion des Reformators Reublin vor 500 Jahren. In einer Podiumsdiskussion nach dem Spaziergang fragten sich Vertreter:innen verschiedener Kirchen, ob die Transformation von Kirche und Gesellschaft Provokation braucht.
Genau 500 Jahre ist es her, als der Basler Leutpriester Wilhelm Reublin mit einer gezielten Provokation der Reformation zum Durchbruch verhelfen wollte. An Fronleichnam zog er nicht mit der Monstranz, sondern mit einer Bibel durch die St. Alban Vorstadt. Ein Skandal, der zur Folge hatte, dass Reublin Basel verlassen musste. An Fronleichnam vor zwei Wochen erinnerte ein ökumenischer Gedenkspaziergang an seine Aktion. Mit einer grossen Bibel geschmückt mit Blumen zogen rund vierzig Personen in Basel von der St. Alban-Kirche zum Bischofshof. Unterwegs gab es Impulse von Täuferhistoriker Hanspeter Jecker und der römisch-katholische Theologin Veronika Jehle.
Kreativität statt Provokation in einer überprovozierten Gesellschaft
Der Spaziergang, der vom Schweizerischen Verein für Täufergeschichte zusammen mit der Evangelisch-Reformierten Kirche Basel-Stadt organisiert worden war, sorgte für wenig Aufsehen. Mit einer Bibel durch die Stadt zu ziehen, scheint heute niemanden mehr zu provozieren. Passend dazu stand an einer Podiumsdiskussion im Anschluss die Frage im Zentrum, wieviel Provokation wir uns erlauben müssen, um als Christinnen und Christen noch gehört zu werden. Wieviel Provokation braucht es im Innern unserer Kirchen, damit sie sich weiter reformieren? Es diskutierten neben Veronika Jehle, Lukas Kundert, Theologe, Pfarrer, Kirchenratspräsident der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt und Professor an der Universität Basel, Lukas Amstutz, Theologe und Co-Präsident der Konferenz der Mennoniten der Schweiz und Michael Bangert, christkatholischer Theologe und Pfarrer sowie Professor an der Universität Basel. Moderiert wurde das Gespräch von Judith Wipfler, Theologin bei Radio SRF.
Überprovozierte Gesellschaft
Zum Einstieg in die Diskussion stellte sich Lukas Amstutz die Frage, wann für Transformation tatsächlich wie viel Provokation nötig sei. Wo könnte damit etwas angestossen werden, wo sei sie nur noch destruktiv. Das sei schwierig abzuschätzen. In unserer Gesellschaft sei es zudem schwer zu provozieren, weil sie bereits überprovoziert sei. Vor 500 Jahren habe Provokation vieles in Bewegung gesetzt. Mit Blick auf seine eigene kirchliche Tradition fragte er sich aber, was aus diesem Anfang geworden und was von dieser Dynamik geblieben sei. Lukas Kundert stellte fest, dass es heute keine gesellschaftliche Mitte mehr gebe. Reublin aber habe die Gesellschaft aus der Mitte heraus verändert, da sei seine Aktion auch noch als Provokation wahrgenommen worden. Provozieren würde heute, wenn sich Institutionen als christlich zu erkennen geben würden, von denen man es nicht erwartete, wenn also beispielsweise auf Radio SRF aus der Bibel vorgelesen werde. Provokativ wäre es aus Sicht von Lukas Kundert auch, wenn die Gesetzesbücher überprüft würden mit der Frage, was darin noch biblisch sei. Veronika Jehle sagte zum Einstieg, sie spreche lieber von Kreativität als von Provokation. Für sie seien ein kreativer Zugang und kreative Aktionen ein Weg, wie wir die Menschen mit den Reformthemen erreichen könnten.
Kirchen sollen gemeinsam Provokation sein
Aus Sicht von Michael Bangert sollten die Kirchen miteinander eine Provokation sein in der Gesellschaft – und zwar mit dem, wofür sie stünden. Dazu seien Christ:innen aber oft zu träge. Lukas Amstutz hielt fest, dass Christsein an sich heute durchaus schon als Provokation angeschaut würden. Wir sollten daher daran arbeiten, innerkirchliche Spezifika nicht überzubetonen. Diese würden sowieso oft nur noch von den Menschen in Kirchen selbst verstanden. Vielmehr sollten die Kirchen durch Zusammenarbeit Salz und Licht sein. Dem pflichtete Michael Bangert bei. Dies gelinge den Christ:innen dann, wenn deren Alltagsleben von Spiritualität geprägt sei, etwas dass er bei den Täufer:innen immer wieder entdecke. Aus Michael Bangerts Sicht lässt sich diese spirituelle und fromme Prägung aus den Quellen bei Reublin nicht feststellen. Er sei eher ein Eventmanager gewesen mit gutem Gespür dafür, was gemacht werden müsse. Veronika Jehle wollte Reublin seine spirituelle Motivation nicht zu schnell absprechen. Sie hielt fest, dass es letztlich nicht um die Form und Grösse der Kirche gehe, sondern um Gerechtigkeit. Dafür sei Reublin aus ihrer Sicht durchaus eingestanden und habe seinen Kopf hingehalten. Lukas Amstutz ergänzte, dass Reublin sich wohl auf einem schmalen Grat bewegt habe, zwischen dem Einstehen für Gutes, Gerechtes und Wahres und dem Vertreten von vielen anderen mögliche Interessen.







Gemeinsamer Weg bringt Veränderung
Auf das Ende hin kam die Diskussionsrunde noch darauf zu sprechen, dass Veronika Jehle erst kürzlich als Spitalseelsorgerin im Kantonspital in Winterthur gekündigt und dem Churer Bischof ihre Missio zurückgegeben hat. Judith Wipfler hielt fest, dass dies einige als Provokation auffassten, viele aber auch Verständnis dafür aufbrachten. In der Diskussion bezeichnete Veronika Jehle ihren Schritt als Gewissensentscheid und nicht als Provokation. Sie hätte sich nicht mehr länger mit der Struktur verbunden wissen wollen, die aus ihrer Sicht diskriminierend sei. Für sie sei es einfach ihr Weg gewesen, mit dem sie auch die Kirche sehr ernst nehme. Sie habe dem Bischof etwas zurückgegeben, das dieser ihr gegeben habe. Seit der Kündigung hätten viele gute Gespräche im Hintergrund stattgefunden. Das seien Kommunikationsprozesse mit Menschen, die letztlich Veränderungsprozesse seien. Nur wenn man mit den Menschen unterwegs sei, ändere sich etwas.