An der Retraite der Pastorale Mennonite Romande berichtete ein ukrainischer Pastor über die Situation in den russisch besetzten Gebieten in seinem Heimatland. Seine Worte hinterliessen bei den Teilnehmenden einen bleibenden Eindruck – auch bei Marie-Noëlle Yoder.
Wie kann man in Zeiten des Krieges den Frieden leben? Wie können Gemeinden auf Zeiten vorbereitet werden, in denen Christ:innen unter Druck stehen? Welche Rolle spielen Christ:innen in einem bewaffneten Konflikt? Diese Fragen standen im Zentrum eines besonders intensiven Nachmittags während der Retraite der Pastorale Mennonite Romande. Sie fand Mitte Oktober in Tramelan statt. Ich nahm zusammen mit rund 20 Personen mit pastoraler Verantwortung aus den französischsprachigen Mennonitengmeinden der Schweiz daran teil.
Gewaltfreier Widerstand ist doppelt so erfolgreich
Nach einem Beitrag von Michel Sommer, der die biblischen und theologischen Grundlagen der Gewaltfreiheit in Erinnerung rief, erläuterte ich die Ergebnisse einer unabhängigen Studie über den Erfolg gewaltfreier Widerstandsbewegungen. Das Fazit der amerikanischen Expertinnen für internationale Politik ist eindeutig: Gewaltfreier Widerstand ist doppelt so erfolgreich wie gewalttätiger Widerstand.
Besuch aus dem Kriegsgebiet
Am Mittag stiessen Pastor Oleksii und seine Frau Oksana zum Treffen. Das Ehepaar kommt aus der Ukraine, aus einem von der russischen Armee besetzten Gebiet. Die Mennonitengemeinde, der sie angehören, steht schon seit Jahren in Verbindung mit Gemeinden der Konferenz der Mennoniten der Schweiz. Beispielsweise reiste 2011 eine Gruppe von Jugendlichen aus der Schweiz in die Ukraine, um der Gemeinde beim Bau ihres Versammlungslokals zu helfen. Pastor Oleksii spricht weder Deutsch noch Englisch. Er beantwortete unsere zahlreichen Fragen auf Ukrainisch. Seine Frau übersetzte die Antworten aus dem Ukrainischen auf Englisch und ich sie dann auf Deutsch. Ein aufwändiges Vorgehen, das jedoch die Kraft von Oleksiis Worten in nichts schwächte.
Es fehlt an allem
Oleksii berichtete von der seiner Mennonitengemeinde und wie die russische Armee ihre beiden Gebäude beschlagnahmt hat. Er berichtete vom Leben seinen Nachbar:innen, die sich in Kellern und Untergeschossen verschanzt haben und diese jeweils nur kurz verlassen, um unter freiem Himmel eine schnelle Mahlzeit zu kochen. Und er berichtete über den Mangel an Strom, Kohle und Heizöl. «Die einzige Ressource, die wir haben ist Holz aus den umliegenden Wäldern», erklärte er. Da die kalte Jahreszeit beginnt, sei Eile geboten. Oleksii und sein Team versuchen, so viele kleine Holzöfen wie möglich und warme Kleidung zusammenzutragen. «Die meisten Menschen haben ihre Häuser nur mit dem verlassen, was sie tragen konnte», sagte er.
Den Menschen helfen
Was ist die Rolle von Christ:innen in einer solchen Krisensituation? «Die Rolle der Christen ist es, anderen zu helfen», sagt Oleksii. «Wir tun alles, was wir tun können. Die Menschen brauchen Kleidung, Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente.» Also fährt er mit seinem Bus kreuz und quer durch die Ukraine, manchmal mit hoher Geschwindigkeit unter Raketenbeschuss. Seit Beginn des Krieges ist er bereits 150’000 Kilometer gefahren. Alle paar Monate darf er die Ukraine für ein paar Tage verlassen unter der Bedingung, dass er mit Lebensmittel zurückkehrt, um der ukrainischen Bevölkerung zu helfen. Was Oleksii in den Schrecken des Krieges gelernt hat? «Im Krieg lernt man eine Sache: Das Böse ist wirklich das Böse», hält er fest.
Auseinandergerissene Familien
Heute ist die Gemeinde über die ganze Welt verstreut. Familien, wie jene von Oleksii, dessen Frau mit den Kindern in Deutschland untergebracht ist, werden getrennt und verstreut. Eine Katastrophe, in vielerlei Hinsicht. Einige Familien sind aus dem Osten des Landes in den Westen geflohen, um sich an der humanitären Hilfe zu beteiligen.
Sich nicht vom Hass überwältigen lassen
Oleksii beendet seinen Bericht mit einigen Ratschlägen für die Schweizer Mennonitengemeinden: «Führt die Diskussionen über den Glauben und das Tragen von Waffen, bevor der Krieg ausbricht,» sagt er. In Kriegszeiten sei nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen. Und er fügt hinzu: «Lernt, euch nicht von Hass überwältigen zu lassen. Ich stelle fest, dass diejenigen, die in Friedenszeiten gelernt haben, dem Hass zu widerstehen, eher in der Lage sind, dies in Kriegszeiten zu tun.» Eine Begegnung, die bei allen Anwesenden und bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Text:
Marie-Noëlle Yoder